Dienstag, 28. Dezember 2010

Background: ABBA, "Mamma Mia" und Musicals an sich...

ABBA - seufz... muss ich mich damit beschäftigen?
Das war eine reine Schlagerkapelle, die ihre große Zeit zum Glück schon lange hinter sich hat. Dass sie so erfolgreich waren, lag vor allem an der guten PR-Arbeit damals. Vom gewonnenen ESC angefangen bis zu den Minikleidchen mit Katzenmotiven. Dass ein Song wie der andere klingt (und das nicht mal besonders gut) und die Tanten zwar hot waren, aber einen deutlichen Akzent hatten, ist schon damals vielen aufgefallen, die sich bei angestrengten Vergleichen wie "die legitimen Beatles-Nachfolger" stets geschüttelt hatten. Zum Glück ging der ABBA-Stern in den 80ern dann schnell unter, so dass sie Damen und Herren sich anschließend aufs Dosenfisch-Verkaufen konzentrieren konnten*.

Dass WDR 4, immerhin einmal Deutschlands größter Schlagersender, schon lange einen Jingle hat, der im Wesentlichen aus I do I do etc. besteht, ist kein Zufall - ABBA war nie mehr als Schlager. Diesen Job haben sie immerhin ganz gut gemacht, sicher besser als die, die sonst auf WDR 4 im Tagesprogramm laufen, aber deshalb ist ihre Musik noch lange nicht konsumierbar.

Vor ein paar Tagen lief im Fernsehen "Mamma Mia" (der Musical-Film mit Meryl Streep und Pierce Brosnan), war in der TV Spielfilm als "Tipp des Tages" angekündigt und mit mehreren Humor-Sternchen versehen, so dass die Familie zunächst nicht abgeneigt war. Nach etwa einer Viertelstunde mussten wir kollektiv erkennen, dass die Musik schrecklich nervt, die Hauptdarsteller allesamt unsympathisch sind, die "Story" dürftig und Humor an keiner Stelle zu erkennen ist. Wir haben dann zuerst während der Songs stummgeschaltet, aber dann nach etwa einer halben Stunde doch lieber woanders hin gezappt. Unerträglich!

Es gibt, man soll's nicht glauben, tatsächlich Leute, die um Musicals grundsätzlich einen großen Bogen machen. Schon, weil die Musik der meisten Stücke grottenschlecht, superseicht und superkitschig ist, da auf maximale Massentauglichkeit getrimmt (Ausnahmen wie die Rock-Musicals aus den frühen 1970ern bestätigen die Regel).

Aber auch weil die Idee an sich absurd ist, dass Dialoge gesungen werden und dabei schön choreografiert herumgetanzt wird. Da so etwas in der Realität nicht funktionieren kann, wird beim Zuschauer vorausgesetzt, dass er dieses Logik-Problem einfach ignoriert. Das klappt schon seit dem frühen 17. Jahrhundert, damals nannte man das "Oper", später "Operette". Man kann versuchen, sich darauf einzulassen (die heutzutage meist großartige Bühnentechnik hilft dabei sicherlich), oder es nach wie vor absurd finden und es einfach kopfschüttelnd lassen. - Ich habe in London vor ein paar Jahren das "Lord of the Rings"-Musical gesehen, das war schon faszinierend, welche Anstrengungen da gemacht wurden, um ein Reiseabenteuer, das die Vorlage ja nun mal ist, auf immer derselben, rundherum von Wänden und einem Zuschauerraum begrenzten Bühne abzubilden. Leider war das auch das einzig Faszinierende. Dass die 1600 Seiten lange Story nicht in zweieinhalb Stunden unterzubringen ist, sollte jedem klar sein, der Peter Jacksons über viermal so lange Verfilmung gesehen hat (und Jackson hat nicht mal Zeit vergeudet mit andauerndem Liedchenabsingen).

Was mich stört, ist, dass in den Köpfen der meisten unkritischen Konsumenten sich offenbar längst festgesetzt hat, dass die Geldmaschine "Musical" eine ganz besonders ehrenwerte Kunstform und Kulturleistung sei, die ihre "Schöpfer", die Ausübenden und die verwendete Musik, unabhängig von ihrer eigentlichen Qualität, grundsätzlich adelt. Kein Musicalfan stört sich offenbar daran, dass nahezu alle Musicals letztlich Zweitverwertungen sind, denen es an originären Ideen mangelt. - Ich warte ja nur auf das große "The Lamb lies down on Broadway"-Musical, uraufgeführt natürlich ebenda, mit Bill Kaulitz als Rael... brrrr...

* kleiner Scherz am Rande - es ist jedoch vielleicht nicht jedem bekannt, dass die Firma "Abba Seafood" wesentlich älter ist als das gleichnamige Hupfdohlenquartett, deshalb erwähne ich es hier.

Montag, 22. November 2010

JETHRO TULL: Stand Up (1969/2010)

Eine etwas zwiespältige Veröffentlichung, besteht sie doch nur aus der längst veröffentlichten Remaster-Version des Albums von 1999, das man als Tull-Fan sowieso schon hat, zuzüglich einem bekannten Konzert von 1970, dessen Einzelteile ebenfalls zuvor nicht unveröffentlicht waren.

Einige Vorteile liegen jedoch im Detail: Das Artwork der 99er Ausgabe war armselig - ein weißer Rahmen verunzierte die geniale Coverzeichnung und der Clou der Vinyl-Originalausgabe, die Band als Pappkameraden, die sich von allein beim Aufklappen (passend zum Albumtitel) aufstellen, war natürlich auch nicht enthalten.
Diese nette Spielerei gibt es jetzt also erstmals auch im Digipak-Format - allerdings hatte bereits die japanische "Mini-Vinyl"-CD-Ausgabe mit dem Remaster von 1999 das Albumcover samt Gimmick reproduziert, und zwar noch um Einiges originalgetreuer als hier. Weitere Pluspunkte: umfangreichere Liner Notes und Fotos, insgesamt eine anspruchsvolle Verpackung, wenn auch mit leichten Schönheitsfehlern (so sollte für meinen Geschmack der Barcode nicht auf der Schmalseite aufgedruckt sein, so dass er im CD-Regal immer schon von Weitem zu sehen ist).

Inhaltlich hat man zumindest einen unnötigen Fehler der 99er Ausgabe beseitigt - die B-Seite "17" ist nun erstmals ungekürzt auf CD erhältlich. Ein Novum für dieses Medium sind auch einige weitere Monoversionen, etwa von "Living In The Past", offensichtlich keine Reduktion der Stereofassung, sondern eine eigene Abmischung.

Als Bonus-CD und -DVD enthält diese Ausgabe das Carnegie-Hall-Konzert vom November 1970 in erstmals vollständiger Audio-only-Version. Von diesem legendären Auftritt gab es jahrzehntelang nur zwei Songs auf dem 72er Sampler "Living In The Past", der Rest erschien erst 21 Jahre später in der "25th Anniversary Box", jedoch dort mit recht zweifelhaftem Klang und nachträglich hinzugefügtem Bombast-Hall, zudem ebenfalls editiert. Die deutlich besser klingende und zumindest auf der DVD auch komplette Version hier ist also zunächst einmal Anlass zur Freude. Allerdings wäre es jedoch besser gewesen, man hätte dieses Konzert als eigenständige Veröffentlichung realisiert, denn zum einen hat es in dieser Verpackung doch ein deutliches Übergewicht. Zum anderen fehlt der nachvollziehbare Bezug zu "Stand Up" und somit taugt es als "Bonus" hier wenig. Denn zum Zeitpunkt des Konzerts war nicht nur das Nachfolgealbum "Benefit" schon ein halbes Jahr auf dem Markt (dessen Songs sind hier deshalb auch gut repräsentiert), vielmehr warf das nächste Album bereits seine Schatten voraus: "My God", erstveröffentlicht 1971 auf "Aqualung" ist hier in einer embryonalen Fassung enthalten. Die Aufnahmen zu diesem legendären Album begannen nur wenige Tage nach diesem Konzert im Dezember 1970. "Stand Up" war da längst Geschichte.

Unabhängig davon ist die DVD gerade für Surround-Fans schon empfehlenswert, denn der Sound ist ausgezeichnet und nochmals um Einiges besser als auf der CD.

Sonntag, 12. September 2010

RICHARD THOMPSON: "Britain's finest electric guitarist"


Ich kannte zwar seinen Namen, wusste auch, dass er 1967 Gründungsmitglied von Fairport Convention war (hatte sogar früh einen FC-Doppel-LP-Sampler, den ich jedoch viel zu selten gehört hatte), habe ihn und sein Solo-Werk leider jedoch erst 1996 entdeckt. "Entdeckt" ist eigentlich das falsche Wort - ein guter Freund hatte mich quasi mit der Nase drauf gestoßen. Er verabschiedete sich in die Sommerferien und übergab mir eine dicke Plastiktüte mit seiner fast kompletten RT-Sammlung mit den Worten "Das musst du dir anhören". Keine sechs Wochen später hatte ich alles, was ich auf CD kriegen konnte, in den Plattenläden von Köln aufgekauft.
Meine Sammlung (es ist unmöglich, RT komplett zu haben) umfasst inzwischen 64 offizielle CDs und 3 Live-DVDs (inklusive der 7 "Richard & Linda Thompson"-Alben, weiteren 7 CDs mit anderen Collaborations, 12 Fairport Convention-Alben, bei denen er mitgewirkt hat, sowie der 6CD-Box "The Life and Music of Richard Thompson") und bildet damit die deutlich umfangreichste Abteilung in meinem CD-Regal.

2003 hatte ich das Glück, ihn bei einem seiner seltene Konzerte in Deutschland zu sehen (im "Gloria", einem kleinen ehemaligen Kino in Köln). Es war ein Acoustic-Setting, außer ihm war nur noch Kontrabassist Danny Thompson (Ex-Pentangle, nicht verwandt oder verschwägert) auf der Bühne. Dieses Konzert rangiert noch heute unter meinen persönlichen Top 3. 
Mit schöner Regelmäßigkeit veröffentlicht er trotz seiner inzwischen 61 Jahre im Schnitt alle drei Jahre ein neues Album; in den Pausen dazwischen gibt es nur über seine Homepage http://www.richardthompson-music.com/ beziehbare Sonderauflagen von Live-Konzerten. Gerade gestern ist sein neues Album, "Dream Attic" angekommen.
Dieses Album, sein 20. Soloalbum (die mit Ex-Ehefrau Linda mitgezählt) ist wieder ein Novum in seiner Karriere - erstmals wurden 13 neue Songs komplett live vor Publikum aufgenommen. Thompson spielt mit seiner eingespielten Electric-Band, darunter mit Multi-Instrumentalist Pete Zorn ein langjähriger Wegbegleiter, 74 Minuten in gewohnt überzeugender Qualität. Die zweite CD spielt die selben Songs in derselben Reihenfolge, jedoch sind es die zuvor aufgenommenen "Demos", meist Thompson solo nur mit akustischer Gitarre, klanglich jedoch hervorragend aufgenommen.
Ein Hauptgrund für RTs ungebrochene Kreativität liegt sicherlich begründet in seiner relativen Erfolglosigkeit. So kommt er nicht auf die Idee, sich zur Ruhe zu setzen oder "Greatest-Hits-Tourneen" zu starten, wie andere Rockstars in seinem Alter. Seinen kommerziellen Höhepunkt hatte er spät mit dem Album "Rumor & Sigh" (1991), das mit Read About Love, I Feel So Good, I Misunderstood, You Dream Too Much, Keep The Distance und vor allem dem genialen Fingerpicking-Akustik-Stück 1952 Vincent Black Lightning auch einige seiner kreativsten Signature-Pieces enthält.
RTs Texte sind hintergründig, humorvoll, oft etwas morbide und sarkastisch, dabei meist im Ich-Erzählstil gehalten. Gern schlüpft er dabei in abseitige Rollen. So ist sein Protagonist in I Feel So Good ein eben entlassener Strafgefangener, der sich so wohl in seiner neuen Freiheit fühlt, dass er glatt "jemandem das Herz brechen" möchte. Der Liebhaber in Read About Love hat alle Infos über die Liebe aus Magazinen wie "Cosmo", "Seventeen" und "Hustler" und einem besonders seriösen Buch eines "Doktors mit deutschem Namen". Nun, da er seine Auserwählte auf dem "Test-Bett" liegen hat, stellt er fest, dass es nicht so klappt, wie erwartet - also muss es an ihr liegen, klar, denn er ist ja bestens über die Liebe informiert.

In seine Musik lässt er immer noch gern traditionelle Folk-Elemente einfließen und klingt dadurch sehr britisch, obwohl er schon seit Jahrzehnten in Kalifornien lebt. Sein Gesang, der zu Fairport-Zeiten noch eher unsicher und schüchtern klang (meist sangen ohnehin andere wie Sandy Denny oder Iain Matthews), hat sich im Laufe der Zeit zu einem markanten Bariton gewandelt, den man immer auf Anhieb erkennt. Viel Lob hat er stets eingeheimst von Seiten der Musikpresse, aber auch von anderen Musikern. Mark Knopflers angeblich so unverwechselbarer Sologitarrenstil ist tatsächlich mehr als nur inspiriert von Thompsons, wobei letzterer deutlich vielseitiger und auch technisch versierter ist.
Obiges Zitat stammt übrigens aus Nick Hornbys Bestseller "High Fidelity" (in der deutschen Ausgabe leider leicht falsch mit "Englands erster elektrischer Gitarrist" übersetzt).

Weitere Empfehlungen:
SHOOT OUT THE LIGHTS (1982)



Das von der Kritik stets hochgepriesene letzte Album mit seiner damaligen Ehefrau Linda - ich war nie ein großer Fan ihrer immer etwas gepressten Stimme, aber hier hält sie sich angenehm zurück und überlässt Richard die Leadvocals der besten Songs. Mit Dave Pegg, Simon Nicol und Dave Mattacks sind gleich drei Mitglieder von Fairport Conventions legendärer "Full House"-Besetzung an Bord, sie werden ergänzt von Multiinstrumentalist Pete Zorn.
Gleich der erste Song ist ein richtiger Kracher - Don't renege on our love lebt vom minimalistischen Shuffle-Rhythmus Mattacks und RTs Sologitarre ist in Top-Form.
Der hochgelobte Titelsong war nie mein Favorit, er kommt zwar extrem druckvoll, aber auch etwas zu lang und zu depressiv, was allerdings wiederum hervorragend zum Text passt. Besser noch gerieten Back Street Slide und vor allem Wall Of Death, der vielleicht beste RT-Song ever. Hier ist sogar Linda in Hochform und singt eine großartige zweite Stimme. Der Text ist vordergründig über einen Kirmesbesuch, dies ist jedoch nur eine clevere Allegorie.


SWEET WARRIOR (2007)



Es gibt kein wirklich schlechtes RT-Album, aber bei diesem hier stimmt wirklich alles, Songwriting, Gesang, Arrangements und Produktion. Anspieltipps: Needle and thread (mit einem ähnlichen Rhythmus wie Back Street Slide), She sang angels to rest (eine fabelhafte, sehr düstere Ballade), Mr. Stupid (ein ironischer Instant-Klassiker mit Hit-Potential), Dad's gonna kill me (aus der Sicht eines US-Soldaten im Irak-Krieg) und schließlich Bad Monkey (klassicher Rock'n'Roll mit Folk-Anleihen und einem großartigen Saxophon).


Wer aber erstmal nur reinschnuppern möchte, dem wäre

ACTION PACKED - THE BEST OF THE CAPITOL YEARS (1988-1999)



zu empfehlen. Es enspricht zwar nicht ganz meiner persönlichen Auswahl aus dieser Ära, aber immerhin sind mit Turning Of The Tide (von "Amnesia", 1988), I Can't Wake Up To Save My Life ("Mirror Blue", 1994), Razor Dance und The Ghost Of You Walks ("You? Me? Us!", 1996), sowie Bathsheba Smiles ("Mock Tudor", 1999) eine ganze Reihe meiner All-Time-Favoriten vertreten, neben vier Songs von "Rumor & Sigh" (von den oben empfohlen fehlen allerdings ausgerechnet das geniale Read About Love, sowie You Dream Too Much).

Dienstag, 30. März 2010

PETER GABRIEL - Live in London 27.3.2010

Eine Woche später, eine Hauptstadt weiter - nach dem Studio 104-Konzert in Paris am 20.3. und den Berlin-Shows in der Wochenmitte nun das erste Konzert im Londoner "The O2". Für Peter Gabriel war es eine doppelte Heimkehr: die Premiere der neuen Show in der Heimat und zugleich die Rückkehr zum früheren "Millenium Dome", in dem vor zehn Jahren die OVO-Show aufgeführt wurde.  

VIP-Ticket-Kunden hatten sich schon um 14 Uhr einzufinden - zunächst wurden ein laminierter Soundcheck-Pass zum Umhängen sowie ein rotes T-Shirt mit der Aufschrift "Soundcheck access" ausgegeben - eine Stunde später wurden die Fans dann in den Innenraum geleitet. Das "New Blood Orchestra" hatte sich bereits eingestimmt und probte mit dem Dirigenten einige kürzere Sequenzen, als nach kurzer Zeit Peter Gabriel auf die Bühne schlurfte - in Filzpantoffeln, Freizeitklamotten, Teetasse in der Hand und auch sonst völlig entspannt. Irgendwann drehte er sich zu den rund 400 VIP-Gästen um und begrüßte sie mit einem launigen "Welcome to the soundcheck". Etwa 90 Minuten lang hatten die Fans nun Gelegenheit, den Musikern bei der Probenarbeit zuzuschauen, während die Beschallungstechniker hörbar beschäftigt waren, die Resonanzen der Halle in den Griff zu bekommen. Als Peter Gabriel seinen Einsatz am Ende von San Jacinto verpasste, wurde überlegt, einige zusätzliche Takte einzufügen, um es Gabriel zu erleichtern. Dies wurde dann auch gleich erfolgreich geprobt. Später durfte das Publikum entscheiden: zur Auswahl standen drei Songs, von denen nur einer gespielt werden sollte. Gabriel sagte sie der Reihe nach an: Wallflower (großer Applaus), Blood Of Eden (verhaltener Applaus), Mercy Street (enthusiastischer Applaus). Also wurde Mercy Street gleich mal ganz geprobt.

Das Konzert selbst begann dann kurz nach Acht mit Ane Brun, die diesmal drei Stücke spielte, darunter wiederum ihre seltsame Interpretation von Big In Japan. Sie stand dabei direkt vor der gut drei Meter hohen und sich über die ganze Bühnenbreite erstreckenden LED-Wand, hinter der das Orchester bereits Platz genommen hatte. Peter Gabriel hielt eine kurze Begrüßungsansprache, in der er nochmals das "Scratch-My-Back"-Projekt erklärte und ankündigte, dass das neue Album in voller Länge gespielt werden würde. Während der ersten Takte von Heroes war Gabriel und sein Orchester unsichtbar, erst später wurde die LED-Wand auf etwa fünf Meter Höhe hochgefahren und gab die Sicht auf die Musiker und die anderen drei senkrecht stehenden LED-Wände frei, die dazu dienten, die Songs mit eingespielten animierten Grafiken zu illustrieren, als auch den Zuschauern in den hinteren Reihen Gelegenheit boten, die Künstler hin und wieder in Großaufnahme zu sehen. Zwei ebenfalls hochkant stehende Rückprojektionsleinwände links und rechts der Bühne erfüllten einen ähnlichen Zweck. Mit mehreren Kameras wurde das Geschehen auf der Bühne eingefangen; zum Finale wurde sogar eine Kamerakugel von der Bühnendecke herabgelassen, mit der Gabriel ausgiebig spielte und so fast einem Bühnenscheinwerfer das Licht ausgeblasen hätte. Wie immer bei Gabriel gab es viel zu sehen; kluge Effekte, sparsam eingesetzt, sorgten für den ein oder anderen verblüffenden Moment. Die sich auf und ab bewegende, halb transparente LED-Wand am vorderen Bühnenrand wurde mal ganz oben unter der Decke, mal tiefer, mal ganz unten wie ein Vorhang eingesetzt. Bei Listening Wind wurde das angezeigte Bild der drei Figuren auf den drei rückwärtigen Schirmen aufgegriffen und auf der vorderen Wand exakt so angezeigt, als würde das Bild unbeweglich stehen und sich mit den synchronisierten Auf- und Abwärtsbewegungen nur der gezeigte Ausschnitt verändern. Es schien dadurch so, als würde die sich bewegende Wand die Figuren auf den Rückwänden scannen. Einige Lacher gab es bei den animierten Strichmännchen, die bei The Book Of Love passend zum Text die Schirme bevölkerten. Einige von ihnen hatten Peter-Gabriel-Köpfe, was nicht nur recht lustig aussah, sondern der Geschichte zum Teil einen neuen Sinn gab. Interessant war, dass schließlich diese illustrierenden Elemente die doch recht unterschiedlichen "Scratch"-Stücke zu einem übergreifenden Ganzen verschmelzen ließen, erst so schien das Konzept wirklich aufzugehen. 

Dieser visuelle Aspekt war sicherlich auch der größte Unterschied zur Radio-Perfomance eine Woche zuvor - musikalisch gab es, trotz des anderen Orchesters, keine großen Unterschiede - wenn überhaupt, war das New Blood Orchestra vielleicht eine Spur besser eingespielt. Natürlich war der Sound in der großen, ca. 14000 Zuschauer fassenden Halle nicht so gut wie im Studio 104 von Radio France, aber im Bereich der VIP-Plätze direkt vor der Bühne war der unverstärkte Klang des Orchesters immer noch gut vernehmbar und mischte sich unauffällig mit dem Sound der Beschallung hoch unter der Decke und dem deutlichen, aber akzeptablem Nachhall der Arena. Die Dynamik war dabei zwar nicht annähernd so hoch wie beim Radiokonzert, dafür kamen die Forte-Stellen des Orchesters deutlich eindruckvoller herüber; unterstützt vom grellen Licht der LED-Wände wirkte dies einige Male recht bombastisch, ohne jedoch übertrieben zu wirken. Die leichte Schwäche der "Scratch My Back"-Song-Reihenfolge war jedoch auch hier nicht zu überhören: nach The Book Of Love sinkt die Spannungskurve des Albums doch erheblich und leichte Langweile macht sich allmählich breit. Es gibt bis zum Schluss kein wirkliches Highlight mehr, so dass es vielleicht interessanter gewesen wäre, hätte man den ersten Teil etwa mit The Power Of The Heart enden lassen.

Nach der Pause ging es dann mit einem umjubelten San Jacinto weiter und auch hier schien den Musikern der zweite Teil des Sets mehr Spaß zu bereiten. Leider war das Orchester ausgerechnet von den VIP-Plätzen direkt vor der Bühne aus kaum zu sehen. Die Bläser, Kontrabässe und der Schlagzeuger wurden von ihren vorn sitzenden Kollegen verdeckt und nur selten waren die Musiker auf den Schirmen zu sehen. Hier hätte eine Staffelung in der Höhe sicher gut getan - der Stimmung, auch auf der Bühne, tat es jedoch keinen Abbruch. Washing Of The Water und Blood Of Eden wurden nicht wirklich vermisst und die äußerst gelungene Version von Mercy Street stattdessen wie erwartet bejubelt. Mit The Drop, angekündigt als das Stück, das man zuletzt verpatzt hatte und hier deshalb nochmal spielen wollte, konnte keiner so recht etwas anfangen - Wallflower wäre da doch vielleicht die bessere Wahl gewesen. Solsbury Hill als Finale des Hauptteils kam wiederum ganz hervorragend an, diesmal allerdings schienen die Musiker mit dem eingefügten Beethoven ein wenig zu hadern - fast hatte man das Gefühl, sie wären vor lauter Götterfunken leicht aus dem Takt gekommen.

Der Zugabenteil dagegen war wie auch eine Woche zuvor eher unspektakulär, Ane Brun hielt sich bei In Your Eyes diesmal auffallend zurück und für The Nest That Sailed The Sky übernahm Gabriel fast unbemerkt das Piano - er hatte seinen Abgang am Ende von Don't Give Up auf seiner linken Bühnenseite und kam dann rechts zurück.

Fazit: ein fehlerloses Konzert mit annähernd perfektem Sound und faszinierender Optik vor 14000 begeisterten Zuschauern. Gabriel schien sich auf der Bühne, ja vor allem auf dieser Bühne, doch eher zu Hause zu fühlen, als im Sendesaal von Radio France, wobei seine spürbare Gelassenheit natürlich auch aus den inzwischen absolvierten drei weiteren Konzerten in Paris und Berlin resultieren mochte. So wurde er diesmal auch nicht müde, immer wieder einige der Musiker namentlich vorzustellen und erwähnte auch die Kollegen von der Beschallung und der Roadcrew. Arrangeur John Metcalfe, der bei In Your Eyes auch dirigieren durfte, wurde immer wieder aus den Bühnenaufbauten hervorgeholt und freute sich sichtlich über den verdienten Applaus.

Sonntag, 21. März 2010

PETER GABRIEL - Live in Paris 20.3.2010


Das Funkhaus von Radio France steht direkt an der Seine, unweit des Eiffelturms. Es wirkt sehr modern, seine Grundform enstpricht einem griechischen Omega. Direkt hinter der großzügigen, voll verglasten Lobby schließt sich das Studio 104 an, ein Sendesaal modernen Zuschnitts, der etwa 600 Zuschauer auf zwei Etagen fasst. Der Oberrang ist sehr steil, so dass auch hier alle Zuschauer eine optimale Sicht auf die Bühne haben. Was Peter Gabriel dazu bewogen hat, hier seine "New Blood"-Tour zu starten, liegt vermutlich in seiner Vergangenheit: Auch 2002 begann er seine "(Still) Growing Up"-Welttournee mit einigen kleineren "Warm Up"-Spezialkonzerten und schon damals fand eines davon als Radiokonzert in besagtem Studio 104 vor geladenem Publikum statt.
Auch in diesem Jahr wurden die Tickets überwiegend verlost über Gabriels Webseite oder direkt von Radio France.

Gegen 19:50 Uhr betrat Peter Gabriel allein die Bühne, um einen kurzen Soloauftritt seiner norwegischen Gastsängerin anzusagen. Ane Brun spielte zwei Songs zur akustischen Gitarre, darunter eine recht eigenwillige Version von Alphavilles Big in Japan.
Pünktlich um 20:05 Uhr nahmen dann die Musiker des Orchestre Philharmonique de Radio France ihre Plätze ein. Als Randnotiz war es im Vorfeld schon bekannt, dass Gabriel hier nicht mit eigenem Orchester auftreten würde - obwohl er das eigentliche Auftaktkonzert in Paris nur zwei Tage später wie auch den Rest der Tour mit eigenen Musikern bestreiten sollte.

foto1Mikrofonprobleme verhinderten dann fast die Ansage eines Radio France-Präsentators, dann betraten der Dirigent und Peter Gabriel nacheinander die Bühne. Gabriel, dessen Position auf der Bühne ungefähr dort war, wo bei klassischen konzertanten Aufführungen die Sänger üblicherweise stehen, also in der Mitte der linken Bühnenhälfte, kündigte auf Französisch an, dass man zunächst das neue Album komplett an einem Stück durchspielen würde. So begann das Konzert mit Heroes - in gleichem, eigenwilligen Arrangement wie auf dem Album. Ab dem dritten Song wurde Gabriel dann zeitweise von seiner Tochter Melanie und Ane Brun unterstützt, die ihre Plätze auf der rechten Bühnenseite eingenommen hatten. Die Pausen zwischen den Stücken wurden offenbar absichtlich sehr kurz gehalten; es gab keine Ansage der einzelnen Songs. Das Orchester spielte sehr konzentriert und anfangs auch etwas steif. Vor allem die eher rhythmusbetonten Stücke schienen noch gelegentlich Schwierigkeiten zu bereiten. So geriet etwa Listening Wind etwas weniger eindrucksvoll, aber spätestens bei  The Power Of The Heart war der Knoten geplatzt, und den über 50 Musikern war die Spielfreude erstmals anzumerken. So geriet der erste Teil des Konzerts zu einer deutlich kurzweiligeren Angelegenheit als das Album, man hatte als Zuschauer fast das Gefühl, die Stücke wären einige Takte kürzer gefasst gewesen. Nach 45 Minuten "Scratch my Back" und einem ermutigenden Schlussapplaus kündigte Gabriel zur großen Freude des Publikums eine Pause an, nach der es mit einigen älteren Stücken weitergehen sollte. Für viele wurde das Konzert erst jetzt so richtig spannend, zumal über die Setlist vorab nur spekuliert werden konnte.

Nach etwa 20 Minuten ging es dann mit verhaltenen Pianotönen weiter, die sich als San Jacinto entpuppten; eine naheliegende Wahl für ein Symphonieorchester und das Arrangement konnte - obwohl durchaus gelungen - auch nicht wirklich überraschen. Das nächste Stück geriet dann vollends zum Ratespiel - erst als der Gesang einsetzte, war erkennbar, dass es sich um Digging In The Dirt handelte - in einem aufregenden und unerwartet passendem Gewand mit vielen schrägen Harmonien.
Wallflower hatten viele auf der Rechnung und Gabriel sagte es sogar an. Unerwartete Schwierigkeiten hatte er dann, als er zwei Takte zu früh zum Mittelteil wechseln wollte. Er unterbrach sich, schüttelte kurz den Kopf und sang ein weiteres "Hold On", nicht ohne hinzuzusetzen, dass dies in Wahrheit nur ein anderes Wort für "Fuck-up" sei, was zu einigem Gelächter im Publikum führte. Der Konzertpianist, sicher ein Meister seines Fachs, konnte einem ein wenig leid tun, denn sein Part entsprach dem, was Gabriel ansonsten auf dem Piano spielt. Entsprechend unterfordert schien er bei den meisten Songs.

Mit Downside Up ging es weiter und wieder einmal war festzustellen, dass Melanie Gabriel leider keinerlei Potential für Sologesang aufweist. Signal To Noise geriet deutlich eindrucksvoller. Viele Dissonnanzen sorgten für eine bedrohliche Stimmung. Das Orchester lief zur Hochform auf. Während des finalen Crescendos verließ Peter Gabriel die Bühne und gönnte sich eine Pause, während Tochter Melanie Washing Of The Water allein bestreiten durfte, leider wiederum mit fragwürdiger Gesangsleistung, die in einem Rock-Kontext noch zu verschmerzen wäre, aber in klassischem Umfeld zwischen all den hochprofessionellen "ernsten" Musikern doch recht peinlich und deplatziert erschien. Für Blood Of Eden kam Gabriel zurück, der Song geriet jedoch wenig eindrucksvoll, da das Orchester mehr oder weniger die von der Studiofassung gewohnten Synthesizerparts übernahm - die ursprünglich ohnehin ein Orchester imitierten.
Foto2Spektakulär dagegen The Rhythm Of The Heat - mit dieser Wahl hatte sicherlich niemand gerechnet, lebt dieser Song doch von seiner extremen Schlagzeugbetonung. So war man doch sehr überrascht, dass hier die Violas, Cellos und Kontrabässe den Rhythmus perfekt übernehmen konnten. Mit allem was verfügbar war, wurde auf die Saiten geklopft, und die Große Pauke sorgte für das eindrucksvolle Fundament. Besonderen Einsatz zeigte hier der erste Kontabass, dem die Levinschen Basslinien nicht immer leicht von der Hand zu gehen schienen. Als der Song sich seinem fulminanten Höhepunkt näherte, war deutlich zu spüren, wieviel Spaß die Musiker bei der für sie doch eher ungewohnten Performance hatten. Große Dynamik und Spielfreude zog sich auch durch das nachfolgende Darkness - ebenfalls eine eher unerwartete Wahl, die ähnlich gut funktionierte -  und Solsbury Hill geriet dann unter enthusiastischen Standing Ovations vollends zum lockeren Happening. Unglaublich, wie mühelos die Interpretation dieses Klassikers gelang. Auch Gabriel war das anzumerken, ausgelassen hüpfte er von einer Bühnenseite zu anderen. In den euphorisierten Schlussteil mischte das Orchester dann geschickt mehrmals Beethovens "Freude, schöner Götterfunken"-Melodie unter. Auch das passte perfekt und sorgte für Überraschung.

Da das Orchester anschließend sitzen blieb, war allen klar, dass es noch Zugaben geben würde. Bei In Your Eyes übernahm Ane Brun den Youssou-Part, was in ihrer Interpretation durchaus gelang.

Auch im abschließenden Don't Give Up konnte Brun mit ihrer außergewöhlichen, immer etwas zittrigen Stimme glänzen. Zum Finale des Konzerts wurde dann ein Instrumental aus "Ovo" gespielt, wahrscheinlich The Nest That Sailed The Sky (durch das geänderte Arrangement schwer zu identifizieren). Gabriel war deshalb auch bereits in der Garderobe. Trotzdem folgte das Orchester den alten Gabriel-Traditionen, eine Show zu beenden: Nach und nach reduzierte sich das Arrangement, so dass zuerst die Bläser, dann die Flötisten, dann die anderen Instrumentengruppen ihre Notenpultbeleuchtungen ausschalteten, so dass es auf der Bühne immer dunkler wurde. Irgendwann knipsten schließlich auch die Violinen das Licht aus. Sekundenlang stand der Dirigent als einziger erleuchtet mit erhobenem Arm bei vollständiger Stille. Es dauerte eine ganze Weile, bis der verdiente Applaus einsetzte. Minutenlange Standing Ovations und ein sichtlich gelöster Peter Gabriel beendeten dann ein außergewöhnliches Radiokonzert, das zumindest für zwei Tage die spannende Frage offen ließ, inwieweit es mit den übrigen Konzerten der Tour vergleichbar sein würde.
Fazit: ein fantastischer Abend eines fantastischen Tages. Das Konzert war, wie von Gabriel gewohnt, höchst interessant und unterhaltsam, trotz der fehlenden Bühnenshow und der eher spärlichen Lichteffekte. Ich fand es besonders faszinierend, den Musikern bei ihrer engagierten Arbeit zuschauen zu dürfen und zu spüren, wie die große Anspannung zu Beginn allmählich einer lockereren, wenn auch stets konzentrierten Gelassenheit Platz machte. In der zweiten Hälfte war der Funke endgültig ins Publikum übergesprungen, so dass die Erleichterung darüber, dass die neuen Arrangements so gut funktionierten, bei allen Beteiligten spürbar wurde. Man hatte zum Schluss das Gefühl, hier Zeuge eines ganz besonderen Moments geworden zu sein.

Extrem gut war auch der Sound im Saal. Von einigen kleineren Problemen abgesehen, die bei Live-Konzerten nie ganz auszuschließen sind, bekam der Hörer eine perfekte Mischung mit einer umwerfenden Dynamik geboten.

Leider passte die Security auch während des Konzerts gut auf - mindestens ein Taper wurde erwischt, ein anderer versteckte sein Gerät vorsorglich gleich unter dem Sitz - von etwaigen illegalen Mitschnitten sollte man also qualitativ nicht zu viel erwarten. Es bleibt wohl nur die Hoffnung, dass die Radiosendungen dieses einmaligen Konzerts nicht allzu stark bearbeitet und gekürzt sein werden.



Setlist:
Heroes
The Boy In The Bubble
Mirrorball
Flume
Listening Wind
The Power Of The Heart
My Body Is A Cage
The Book Of Love
I Think It's Going To Rain Today
Après Moi
Philadelphia
Street Spirit (Fade Out)


- 15 Minuten Pause -

San Jacinto
Digging In The Dirt
Wallflower
Downside Up
Rhythm Of The Heat
Blood Of Eden
Signal To Noise
Washing Of The Water (Melanie solo)
Darkness
Solsbury Hill
In Your Eyes
Don't Give Up
The Nest That Sailed The Sky