Mittwoch, 28. Oktober 2015

Technobabble: Dolby Atmos

Mehrkanaltonformate haben natürlich nur am Rande mit Musik zu tun - abgesehen von der relativ kurzen Phase in den 1970er Jahren, in denen versucht wurde, die Quadrophonie als Nachfolger der Stereophonie als reines Audioformat zu etablieren (was damals in erster Linie an der Unzulänglichkeit der damaligen Technik gescheitert war), konnten sich alle späteren Mehrkanal-Aufzeichnungs- und Übertragungsformate nur etablieren, weil mit dem boomenden "Heimkino"-Markt ein preiswertes und allseits kompatibles optisches Speicherformat eingeführt wurde: die DVD. 5.1 Surround in Dolby Digital und DTS gab es damit von Anfang an auch für die Kunden, die den Ton zuhause noch über die im Fernseher eingebauten Quäken hörten. Heimkino-Anlagen mit sechs und mehr Lautsprechern wurden in den Folgejahren preiswerter, kleiner und damit auch beliebter. Musik wurde mit diesen eher für Soundtracks optimierten Anlagen natürlich auch gehört, und trotz der weithin als gescheitert angesehenen Versuche, mit DVD-Audio und SACD zwei Formate für hochauflösendes Mehrkanal-Audio zu etablieren, wurden und werden in ansteigender Zahl weiterhin Musikalben in Surround veröffentlicht, viele darunter sind Wiederveröffentlichungen, oft in aufwändiger Verpackung als "Superdeluxe-Edition" für Liebhaber - mit entsprechender Preisgestaltung, mit der sich dann auch Kleinauflagen rechnen - sehr zur Freude der Tonträgersammler, die es nach wie vor immer noch gibt.

Inzwischen ist die Blu-ray als universelles Discformat längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen und hat auch SACD und DVD-Audio beerbt. Die Blu-ray wurde von Anfang an als offener Standard eingeführt, d.h. anders als bei der DVD sollten hier technische Weiterentwicklungen nicht ausgeschlossen sein, neue Codecs für Bild und Ton sollten so die Zukunftsfähigkeit des Mediums sichern. Dies führte in der Vergangenheit leider oft dazu, dass neuere Blu-rays auf älteren Spielern nur per nachgeschobenem Software-Update zum Laufen zu bewegen waren, wenn überhaupt. In den meisten Fällen waren es neue Authoring-Tricks, die nicht ganz abwärtskompatibel waren, manchmal aber auch größere Erweiterungen des Standards wie die Einführung von 3D. Für die Industrie ein Segen, bedeutet es doch, dass ein Blu-ray-Player, wenn er nach wenigen Jahren schon aus dem Update-Support des Herstellers herausgeflogen ist, schneller veraltet ist als er durch Verschleiß kaputt gehen kann - der Kunde hat dann nur noch die Wahl, auf neuere Discs zu verzichten, oder sich endlich einen neuen Player zu kaufen - und ggf. einen neuen Receiver und Fernseher gleich mit.

Beim Blu-ray-Ton hatte sich lange nichts getan. Den letzten größeren Schnitt gab es Ende 2006, als mit HDMI 1.3 eine volldigitale Schnittstelle zum Standard wurde, die erstmals auch das Streaming von Dolby TrueHD und DTS-HD Master Audio ermöglichte - den beiden (verlustfreien) Standardformaten der Blu-ray. Damit waren die anachronistischen analogen Multichannel-Verbindungen (sechs Cinch-Kabel zwischen Player und Receiver) obsolet geworden.

Zum großen Bedauern der Industrie nahmen diese Receiver noch bis vor kurzem alle möglichen Digitalformate an ihren Eingängen problemlos entgegen, also musste dringend etwas Neues her, das den Kunden dazu motivieren sollte, sein Heimkino erneut einem teuren Update zu unterziehen. Dies passte perfekt zu den parallelen Bestrebungen der Firma Dolby, das an DTS verlorene Terrain zurückzugewinnen - anders als bei der DVD-Video, wo Dolby Digital eins der Pflichtformate und DTS stets nur optional angeboten werden durfte (es darf daher bis heute keine DVD geben, die ausschließlich DTS als Tonformat anbietet) - war DTS-HD Master Audio von Anfang an ein Standardformat für Blu-rays - jeder Spieler musste es daher unterstützen. Dummerweise stellte sich DTS-HD MA auch noch als das unkompliziertere Format heraus; in der Folge verlor TrueHD zunehmend Marktanteile.
Ein neues Format musste also her und es musste entsprechend beworben werden:



Wow, was für ein Name! - "Atmos", das klingt nach griechischer Gottheit oder wenigstens nach einer griechischen Sonneninsel; suggeriert in jedem Fall Erhabenheit. 2012 eingeführt, gab es das anfangs nur für einige wenige ausgewählte Kinos (die dafür vermutlich horrende "Atmos-Zuschläge" verlangten).
Neu bei Atmos ist die im Prinzip unlimitierte Anzahl der Tonkanäle - die erste Generation des "Dolby Atmos Cinema Processors" (ein spezieller Computer, der für die Kino-Wiedergabe unerlässlich ist) erlaubt bis zu 128 diskrete Kanäle und bis zu 64 diskrete Lautsprecherausgänge. Die Idee dahinter ist nicht neu, schon Pete Townshend experimentierte in den 1970er Jahren mit einem Lautsprecher-Array, das einen Hörraum fast lückenlos umschließen sollte. Atmos sieht allerdings explizit Kanäle für die Beschallung von der Decke vor - ideal für z.B. Hubschrauber-Überflüge.

Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich Atmos daher als eine Mischung aus gewöhnlichen Surroundkanälen mit festem Bezug zu einzelnen Lautsprechern und Spezialkanälen, die für bewegte "Sound-Objekte" vorgesehen sind. Ein Atmos-Signal besteht daher aus drei Komponenten:

"Bed-Audio" - das sind die konventionellen, kanalbezogenen Signale, die einem üblichen 7.1 oder 9.1 Setup mit bis zu vier Deckenlautsprechern entsprechen,
"Object-Audio" - dies sind spezielle Kanäle für frei im Raum bewegbare Einzelgeräusche mit automatisierten Richtungsänderungen,
"Dolby Atmos Metadata" - dies sind die Daten, die für das Rendern der "Object-Audio"-Signale erforderlich sind und in erster Linie daher die benötigten Richtungsinformationen enthalten.

Vereinfachend könnte man sagen, dass es den Dolby-Entwicklern darum geht, die heutige Standard-Anordnung eines Surround-Setups von fünf oder sieben Lautsprechern, die alle auf einer einzigen Ebene (Ohrhöhe) abstrahlen, um eine dritte Dimension, die Höhe, zu erweitern. Mit Atmos ist es prinzipiell möglich, bis zu 118 verschiedene "Audio-Objekte" frei in einem Raum zu platzieren bzw. sie im Raum gezielt bewegen zu können.
Der Ansatz, dies unabhänging von der Anzahl der tatsächlich vorhandenen Lautsprechern zu schaffen, wurde durch die Not geboren, nicht jedem Kino- (und schon gar nicht dem Heimkino-) Besitzer vorschreiben zu können, wo und wie viele Lautsprecher er tatsächlich zu stellen oder zu hängen hat und wieviele Kanäle seine Anlage in der Lage ist, gleichzeitig wiederzugeben.
Dolby wirbt daher damit, dass ein Atmos-System diese Wiedergabe-Bedingungen automatisch erkennt. Daher werden die Audio-Objekte von einem speziellen Computersystem in Echtzeit gerendert. Der Computer weiß durch die mitgelieferten Metadaten, wo ein Audio-Objekt sich befinden soll, verrechnet dies mit den ihm bekannten Positionen der angeschlossenen Lautsprecher und weist diesen Lautsprechern dann exakt den Signalanteil zu, den das Ohr benötigt, um das Geräusch dort zu lokalisieren, wo es beabsichtigt ist. Je mehr Lautsprecher und -kanäle dafür zur Verfügung stehen, desto präziser soll das Ergebnis sein. In einem High-Tech-Großraumkino sicher kein Problem, aber in einem Wohnzimmer?

Ja, auch im Wohnzimmer soll Atmos Vorteile bringen, lässt uns Dolby wissen. Offenbar ist den Entwicklern sogar die Problematik bekannt, dass in den meisten dieser Hörstuben alles andere als ideale Abhörbedingungen existieren - auch, dass die meisten Hörer nicht einmal in der Lage sind, die vorhandenen Lautsprecher optimal aufzustellen. Sie wissen auch, dass der Trend eher zu "virtual Surround" geht und die Leute daher "Soundbars" bevorzugen, die meist unter dem Fernseher liegen und mit allerlei Phasenschweinereien einen Surroundklang zu imitieren versuchen. Trotzdem schlagen sie allen Ernstes eine Aufrüstung auf bis zu vier zusätzliche Deckenlautsprecher vor. Falls Deckenlautsprecher gar nicht gehen, sollen es auch Standlautsprecher auf Ohrhöhe tun, die eine zusätzliche Membran aufweisen, die nach oben gerichtet zur Decke abstrahlt und den Schall so reflektiert. Was sowas mit der eben verkündeten Präzision der Ortung zu tun hat, wissen allerdings nur die Dolby-Leute. Nun denn - es hat in der Vergangenheit schon mehrfach Versuche gegeben, die Lautsprecherzahl im Heimkino zu steigern, bisher konnte sich neben 5.1 kaum etwas anderes durchsetzen. Meine Prognose ist die, dass sich das auch durch Atmos nicht ändern wird.

Tatsächlich gibt es Dolby Atmos inzwischen auch für Blu-rays - zumindest sind einige wenige Titel bereits mit diesem Label erschienen - dass dies jedoch in erster Linie eine Marketing-Masche ist, sollte auf der Hand liegen. Es fängt schon damit an, dass ein Blu-ray-Player oder AV-Receiver niemals 118 Audio-Objekte in Echtzeit rendern könnte - die im Heimgerätebereich verwendeten Prozessoren sind dafür viel zu lahm und die Maximaldatenrate einer Blu-ray ist ohnehin auf 48 Mbit/s begrenzt - Video inklusive. Die statischen Kanäle sind nicht das Problem - es ist vergleichsweise einfach, ein paar zusätzliche diskrete Signale für die Decke mitzuführen. Die Vorteile der von Atmos gezielt berechneten Audio-Objekte wird man jedoch bestenfalls für einige wenige, besonders auffällige Geräusche wahrnehmen können. Atmos auf Blu-ray bedeutet also immer, dass es sich um einen gegenüber dem Kino-Original deutlich limitierten Downmix handelt.

Zudem dürfte es nur für einige wenige Blu-ray-Player und AV-Receiver Firmware-Updates geben - wie oben erwähnt ist das aus Sicht der Industrie ja auch nicht der Sinn der Sache. Aber selbst dann wäre immer noch ein neues Set Lautsprecher und die Neuverkabelung des Wohnzimmers erforderlich. Ob man sich das wirklich zumuten möchte, muss jeder selbst entscheiden.
Zum Glück ist Atmos eingebettet als eine Erweiterung der bestehenden Formate Dolby TrueHD oder Dolby Digital Plus - jeder AV-Receiver, der mit den zusätzlichen Informationen von Dolby Atmos nichts anzufangen weiß, kann in jedem Fall die "Core"-Informationen von TrueHD decodieren, liefert dann also wie gewohnt "normales" 5.1 oder 7.1 Surround - und wenn man so am Ende gar nichts vermissen sollte, würde mich das nicht groß überraschen.

Atmos auf Blu-rays nützt zwar also nicht unbedingt viel, richtet allerdings auch keinen größeren Schaden an, es sei denn, ein zusätzlicher Aufkleber mit dem Atmos-Logo führte zu einer messbaren Verkaufspreissteigerung - was keinesfalls auszuschließen sein dürfte; immerhin sind Blu-rays mit dem "3D"-Logo ja auch bis zu 100% teurer als "normale".