Samstag, 28. Juni 2008

ANTHONY PHILLIPS - The Geese & the Ghost (1977/2007)

Abb.: progarchives.com
Als ich im Mai 2006 Gelegenheit hatte, Ant Phillips zu fragen, wann denn die lange angekündigten Remasters der Alben "The Geese & the Ghost", "Wise After The Event" und "1984" endlich erscheinen würden, sagte er nur "Soon, very soon". Das zuerst angekündigte Erscheinungsdatum war da bereits verstrichen, trotzdem schien er zuversichtlich. Doch erst über ein Jahr später, im Juli 2007 wurden die CDs dann zunächst nur in Japan veröffentlicht - in der dort landesüblichen, originalgetreuen Mini-Vinyl-Replica-Verpackung - der Rest der Welt musste weiter warten, oder sich die Scheiben teuer bei Ebay besorgen - am Besten gleich in der 8CD-Box-Edition im Schuber für 200 Dollar. Und nochmal ein weiteres Jahr sollte es dauern, bis das Album, nunmehr in einfacherer Jewelcase-Verpackung, die europäischen Läden erreichte.

Das Album beginnt mit der recht kurzen, praktisch nur aus Ein- und Ausblende bestehenden instrumentalen Einleitung Wind - Tales, das nichts anderes ist als ein einminütiger Ausschnitt des orchestralen Finales von Sleepfall: The Geese Fly West - jedoch rückwärts abgespielt.

Danach folgt mit Which Way The Wind Blows der erste eigentliche Song des Albums. Er wurde, so Jonathan Dann in seinen ausführlichen Erläuterungen im Booklet, ebenso wie die anderen Stücke der ersten LP-Seite, das instrumentale Henry: Portraits From Tudor Times und die Ballade God If I Saw Her Now, in den ersten zehn Tagen nach Ants Ausstieg bei Genesis im Juli 1970 geschrieben (eine Aussage, die zumindest auf God If I Saw Her Now nicht zutreffen kann, existiert doch von diesem Song ein Demo von 1969, veröffentlicht auf Ants hervorragendem Sampler "Archive Collection Vol.1"). Which Way The Wind Blows, eine langsame, romantische 12-String-Gitarrenballade mit einem längeren Instrumentalteil, wird zweistimmig gesungen von Phil Collins, sein Gesangsstil ist ähnlich verhalten wie auf den ersten Genesis-Alben, bei denen er der Leadsänger war.

Henry: Portraits From Tudor Times, eine Gemeinschaftskomposition von Anthony Phillips und Mike Rutherford, ist eines der beiden instrumentalen Zentralwerke dieses Albums. Musikalisch ist es eine akustische, von Leitmotiven geprägte romantische Suite in Form einer nichtvokalen Ballade, die eine in mehrere Abschnitte unterteilte Geschichte erzählt. Dabei werden opernhafte Effekte wie Fanfaren, Salutschüsse und Chorgesänge benutzt. Mit der realen Musik des Spätmittelalters hat die von Henry daher wenig zu tun, sie folgt -passend zum Artwork des Albums - stilistisch eher dem verklärt-romantisierten Bild des Mittelalters, das bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert populär wurde und sich auch durch entsprechend glorifizierende Filmschinken in der Rezeption des 20. Jahrhunderts etablieren konnte.
Inhaltlich geht es laut der ausführlichen Beschreibungen auf dem Innencover des Albums um Bilder ("Portraits") aus dem Leben König Heinrichs VII. von England, speziell um seinen Krieg gegen Frankreich. Er war der erste Monarch aus dem Hause Tudor und regierte von 1485 bis zu seinem Tod 1509. Er war Vater des berüchtigten Heinrich VIII., ließ es selbst aber ruhiger angehen. Der Feldzug gegen die Franzosen 1492 war nur eine kleinere Invasion in der Bretagne, die er nutzte, um Frankreich zu einem Friedensvertrag zu bewegen, der England zwar die Bretagne kostete, ihm jedoch seinen Thron absicherte und ordentlich Geld in seine Kassen spülte.
Fanfarenklänge eröffnen und beschließen das Werk, dazwischen liegen spannungsgeladene Gitarrenduelle auf nebligen französischen Schlachtfeldern, sterbende Ritter, siegreiche Kämpfe mit dramatischen E-Gitarrensoli und schließlich die triumphale Rückkehr des Königs mit krachenden Salutschüssen und dem Schlussgesang des Chores in der königlichen Kapelle.
Als das Album 1977 nach langen Querelen mit den Plattenfirmen endlich veröffentlicht werden sollte, erschien Henry mit seinen 14 min ein wenig zu lang. Eine längere Passage, der 1:17 min lange Lutes' Chorus Reprise und zwei Wiederholungen von kürzeren Phrasen wurden daher eiligst herausgeschnitten, insgesamt 1:52 min konnte man so einsparen. Bei der Durchsicht der Masterbänder stieß man auf diese später entfernten Stücke und so entschloss man sich, Henry für das Remaster erstmals in der langen, ungekürzten Version zu veröffentlichen. Ob dies dem Stück gut getan hat, ist jedoch fraglich. Die zuvor herausgeschnittenen Stücke bieten jedenfalls nichts Neues; sie sind lediglich Variation oder schlichte Wiederholung von vorhandenen Elementen. Zudem leidet an einer Stelle die Wirkung eines durch den Schnitt besonders dynamischen und dramatischen Effekts, bei der man in der gekürzten Fassung das stakkatoartige Gitarrenforte, mit dem Henry Goes To War beginnt, direkt auf das extrem leise Ende von Misty Battlements folgen ließ. Selbst, wenn man das Stück gut kannte, wurde man von der erheblichen Lautstärkedifferenz dieses Schnittes immer wieder überrascht. Nach dem Wiedereinfügen des Lutes' Chorus Reprise an genau dieser Stelle setzt Henry Goes To War nunmehr zwar immer noch unvermittelt, aber mitten in einer wesentlich lauteren Passage ein. Zusammenzucken ist hier so leider nicht mehr, die Wirkung geht verloren.

Für God If I Saw Her Now gewann man als Duettpartnerin von Phil Collins die weitgehend unbekannte und inzwischen leider verstorbene Sängerin Vivienne McAuliffe. Beide sind sich jedoch im Studio nie begegnet; ihre Beiträge wurden separat aufgenommen. Der Song folgt zunächst einem sehr simplen, aber wunderschönen E-Gitarren-Folkpicking, auf das ein fabelhaftes Flötensolo von Steve Hacketts Bruder John folgt. Beide Sänger nehmen sich sehr zurück und geben dem Stück eine ruhige, fragile Grundstimmung, die gut mit dem leicht tragischen Text korrespondiert.

Seite 2 beginnt ähnlich wie Seite 1 mit einem kurzen Instrumentalstück, genannt Chinese Mushroom Cloud, das eigentlich nur eine kurze Sequenz des Titeltrack-Hauptthemas ist, abgespielt jedoch mit halber Geschwindigkeit. Nicht viel mehr als ein Gag, bildet es so jedoch immerhin eine etwas düstere, aber passable Einleitung zum nachfolgenden

The Geese & the Ghost, dem zweiten instrumentalen Zentralwerk dieses Albums. Dieses zweiteilige Stück wurde bereits zu Genesis-Zeiten von Rutherford und Phillips gemeinsam komponiert. Es hatte seinerzeit den Arbeitstitel D Instrumental; das Original-Demo von 1969 wurde unter diesem Titel 1996 auf "Archive Collection Vol.1" erstveröffentlicht. Es bietet eigentlich alles, was Genesis-Fans gefällt, lange Passagen mit akustischen 12-String-Gitarren, komplexe Rhythmen, krumme Takte und Mellotron-Klänge (das Gerät hatte Ant sich extra für die Aufnahmen von Tony Banks geliehen), aber auch ein Streichquartett, das ein wenig zum Soundtrack-Charakter des Stückes beiträgt. Fantastisch und virtuos ist das Zusammenspiel der beiden Gitarristen - es ist unmöglich, herauszuhören, wer genau was spielt, so intensiv greifen die Instrumente ineinander. Kompositorisch gesehen ist dieses Instrumental sicherlich der frühe Höhepunkt in Phillips' Gesamtwerk - ein echter Klassiker.

Collections lautet der einzige gesungene Titel auf Seite 2, eine ebenfalls bereits 1969 geschriebene Ballade; und diesmal singt Ant Phillips selbst, mit seiner introvertierten, in den oberen Lagen recht unsicheren und oft brüchig klingenden Stimme. Der Song beginnt ruhig, nur mit Piano-Begleitung und steigert sich zum orchestralen, bisweilen etwas kitschig arrangierten Finale.

Der Übergang zu Sleepfall: The Geese Fly West gelingt fließend, als bildeten beide Stücke eine musikalische Einheit. Sleepfall... beinhaltet im Grunde nur eine einzige, achttaktige Melodieidee, die zunächst solo vom Piano gespielt, dann, von anderen Instrumenten übernommen, mehrere Male wiederholt wird und deren orchestrales Arrangement sich kräftig steigert, bis sie dann mit den Gänsen und sanften Flötentönen im fernen Westen verschwindet. Ein wunderschönes Ende eines wunderschönen Albums.

Dies ignorierend fand sich leider auf der Virgin-CD-Erstpressung danach noch als Bonustrack das Demo von Master Of Time, das, obwohl 1973 aufgenommen, entstehungsgeschichtlich ebenfalls in die Trespass-Phase fällt. Ursprünglich durchaus für das Album vorgesehen, konnte dieser Song jedoch aus Zeitgründen nicht bei den Album-Sessions aufgenommen werden. Sowohl von der Klangqualität als auch von Instrumentierung und Interpretation kommt diese Version an keiner Stelle über das Demo-Niveau heraus, die Überlänge (7:38 min!), Ants brüchige Stimme und die schlichte Instrumentierung lassen auch beim geneigten Hörer schnell Langeweile aufkommen und wurden im Laufe der Zeit eher zu einem Ärgernis. Master Of Time ist nunmehr völlig zu Recht auf die Bonus-CD verschoben worden, wo er keinen Schaden mehr anrichten kann.

Diese zweite CD ist laut Anthony Phillips seinem schlechten Gewissen geschuldet - er fand es nicht angemessen, das Album einfach nur zu remastern und den Fans ohne weiteren Mehrwert zu verkaufen. So finden sich neben Master Of Time hier eine ganze Reihe weiterer interessanter und klug zusammengestellter Bonustracks: Title Inspiration ist eine kurze Solo-Vorführung der beiden Sounds ("Geese" und "Ghost") des ARP Pro-Soloist Synthesizers, die dem Album seinen Namen gaben. Es folgen eine Reihe von Demos und Basic-Track-Versionen der Album-Stücke, mesit reduziert auf zwei Gitarren. Befreit vom übrigen Arrangement, lassen sich hier erstmals Melodieverläufe und das Zusammenspiel der Instrumente ungestört verfolgen.

Die eigentliche Sensation dieses Albums ist jedoch die Erstveröffentlichung von Silver Song in der Phil Collins-Version, mit der die Bonus-CD endet. Dieser Song, geschrieben von Anthony Phillips und Mike Rutherford noch zu Genesis-Zeiten als eine Art Abschiedsgruß für den zweiten Genesis-Drummer John Silver, war seinerzeit im Gespräch, als A-Seite einer möglichen Phil Collins-Solo Single veröffentlicht zu werden; immerhin finanzierte Charisma die Studio-Session im November 1973, tat jedoch anschließend nichts mit den Masterbändern. BBC Radio One spielte das fertige Tape von Silver Song im Anschluss eines Interviews mit Phil im Juni 1974 - auch hier ging man noch von einer baldigen Veröffentlichung aus; dies scheiterte jedoch aus bis heute ungeklärten Gründen.

Im Booklet des 1990 von Virgin auf CD wiederveröffentlichten Anthony Phillips-Albums "Private Parts & Pieces", das eine erweiterte, von Phillips vier Jahre zuvor neu eingespielte Demoversion von Silver Song als Bonustrack enthielt, schrieb Phillips noch, dass es grundsätzlich keine Chance gebe, dass die Phil Collins-Version je erschiene. Für viele Fans ist somit ein 35 Jahre lang ersehnter Traum in Erfüllung gegangen, auch wenn es unbegreiflich ist, dass die potentielle B-Seite Only Your Love hier fehlt. In einem kürzlich erschienenen Interview meinte Anthony Phillips, dass dieser Song eher roh und unfertig geblieben war, da er seinerzeit in ziemlicher Eile aufgenommen wurde und er deshalb Phil nicht auch noch habe um Erlaubnis fragen wollen, nachdem dieser der Veröffentlichung von Silver Song hier erstmals zugestimmt hatte. Phillips wollte aber nicht ausschließen, Only Your Love in absehbarer Zeit woanders veröffentlichen zu können, etwa in einer Archive #3-Compilation.

Wie auch alle nachfolgenden Anthony Phillips-Alben wurde "The Geese & The Ghost" kein Hit. Auch diverse Aufkleber, die auf die Mitwirkung der Genesis-Kollegen hinwiesen, änderten nichts daran, es wurde auch von treuen Genesis-Fans weitgehend ignoriert - erstaunlich bei all den Genesis-Referenzen. Schließlich sind die meisten Stücke noch während oder kurz nach seiner Zeit mit der Band enstanden und knüpfen so konzeptionell, aber auch musikalisch direkt ans "Trespass"-Album an. Wäre es zwei Jahre früher erschienen, hätte es möglicherweise die Beachtung gefunden, die ihm zustand, 1977 hatte sich die Musikszene unter dem Einfluss von Punk und New Wave weltweit bereits so stark verändert, dass dieses Album bemerkenswert unmodern klang.

Die LP-Pressungen waren zudem klanglich allesamt bescheiden, viel zu groß war die Dynamik der Musik um sie in dieser Länge (fast 48 min Gesamtspieldauer) adäquat auf zwei Seiten Vinyl unterzubringen (bei mehr als 18 min pro Seite muss die Gesamtlautstärke reduziert werden, da die Rillen enger geschnitten werden müssen). Für die extrem leisen Passagen vor allem von Henry war dies letztlich Gift, sie gingen im Rillenrauschen nahezu vollständig unter.

1990 erwarb Virgin Records die Rechte an allen Phillips-Alben und brachte sie erstmals auf CD heraus (das "Geese"-Album war in den USA allerdings bereits zwei Jahre zuvor von Passport auf CD wiederveröffentlicht). Für das Mastering wurde ein Trident-Studio-Mastertape unbekannter Generation verwendet, das erkennbar nicht das Original-Master war - der deutlich vernehmbare Rauschteppich störte denn auch empfindliche Ohren und enttäuschte alle, die sich von der CD einen erheblichen Gewinn an Dynamik versprochen hatten. Für das Remaster konnte man nun erstmals auf das Original-Master zurückgreifen. Es klingt daher um einiges brillanter und lebendiger als alle Veröffentlichungen zuvor. Ein Vergleich der Frequenzkurven zeigt, dass bei der Virgin CD ab etwa 2 KHz ein Hochtonabfall zu verzeichnen ist - bei 4 KHz beträgt die Differenz 3 dB, bei 10 KHz bereits 6 dB, also eine Halbierung der Lautstärke. Gleichzeitig ist die Basswiedergabe des Remasters ebenfalls leicht kräftiger. Bei 40 Hz gibt es eine deutliche Anhebung, die Senke der Virgin CD bei 65 Hz wurde ausgeglichen, ebenso wie ein kleiner Peak bei 650 Hz. Im direkten Vergleich erscheint die Virgin CD daher muffig und unpräzise, das Remaster dagegen frisch und druckvoll und das bei erheblich geringerem Rauschen. Es hat sich also definitiv gelohnt, hier nach all den Jahren noch einmal Hand anzulegen.

Diese Rezension wurde auf der Webseite des Deutschen Genesis-Fanclubs 'it' erstveröffentlicht: http://www.genesis-fanclub.de

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