Zitat eines Lesers:
Ich habe nun den letzten Teil Deines Blogs gelesen und sicherlich
hast Du in Deinen technischen Beschreibungen vollkommen recht. Aber
genau das ist der Punkt: Technisch! Du schreibst, dass Du dazu neigst,
Deinen Ohren nicht zu trauen.... Das macht mich traurig! Lass Deine
Messtechnik im Schrank und genieße Deine 5 Sinne! Und bevor Du
vorschnell antwortest: Ich bin alles Andere als ein Esoteriker!
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Die Sehwahrnehmung beispielsweise passt sich automatisch der Farbtemperatur an - schon nach kürzester Zeit hat man vergessen, dass die Sonnenbrille auf der Nase das einfallende Licht stark verfärbt - alles sieht schnell ganz normal aus und dass das nicht so ist, merkt man erst wieder, wenn man sie absetzt. Ob eine Lichtquelle eher "kalt" oder "warm" leuchtet - das Gehirn sorgt für einen automatischen Weißabgleich. Ohne eine zuverlässige Referenz ist es daher nahezu unmöglich, die Farbtemperatur einer Lichtquelle zu beurteilen. Glücklicherweise wird die in der alltäglichen Umgebung mitgeliefert - ein Blick aus dem Fenster ins "kalte" Tageslicht reicht, um eine Glühlampe daneben als "warm" zu erkennen.
Nicht viel anders ist es mit den Ohren - zu diesem Thema gibt es einen eigenen, wissenschaftlichen Forschungszweig, die Psychoakustik - dabei geht es um das spannende Zusammenspiel von empfundenen Hörereignissen und physikalischen Schallereignissen, letztlich um Wahrnehmung.
Analog zum Beispiel mit der Sonnenbrille benutzt das Gehirn stets einen fest eingebauten Equalizer, der jeden Sound in allen Frequenzbereichen nahezu perfekt "equalisiert", d.h. vorhandene Verfärbungen und Verfälschungen schnell und unbewusst ausgleicht. Das geht sogar so weit, dass Frequenzen wahrgenommen werden, die im Originalsignal gar nicht enthalten sind! - Eine Wiedergabe des tiefsten Tons einer Bassgitarre etwa (das E mit ca. 40 Hz) wird von den meisten mittelgroßen und kleinen Lautsprechern gar nicht übertragen - den Ton bilden wir uns trotzdem ein, denn wir hören seine Obertöne bei 80 und 160 Hz. Dass die Grundfrequenz 40 Hz fehlt, merken wir bestenfalls beim Umschalten auf ordentliche große Lautsprecherchassis, die tatsächlich in der Lage sind, die erforderliche Energie an die Luft abzugeben.
Auch die Tatsache, dass sich die Obergrenze der Hochtonwahrnehmung mit zunehmendem Alter allmählich nach unten bewegt, wird meist erst dann als störend empfunden, wenn die Sprachverständlichkeit leidet. Das ist aber erst dann der Fall, wenn Töne nur noch bis 4 kHz oder weniger wahrgenommen werden. Zum Vergleich: ein Säugling kann mühelos Töne bis 20 kHz und höher hören, der Grundtonbereich von Musikinstrumenten geht bis ca. 8 kHz, darüber finden sich nur noch Obertöne bis etwa 20 kHz. Auch diese Obertöne werden, sollten sie fehlen, vom Gehirn automatisch und unbewusst ersetzt. Wir können z.B. stundenlang telefonieren, ohne dass uns der dabei stark eingeschränkte Frequenzgang (typischerweise ca. 300 - 3400 Hz) stören oder auch nur auffallen würde.
Das Gehör hat zudem ein wirklich schlechtes "Gedächtnis" - bei einem A/B-Vergleich etwa ist es entscheidend, dass die Umschaltpause nur Bruchteile von Sekunden beträgt. Ansonsten sind die entscheidenden Klangeindrücke von A schon längst vergessen, bevor B zu hören ist.
Ein Freund erzählte mir erst kürzlich, er hätte es gar nicht glauben wollen, aber er habe einer Demonstration von Lautsprecherkabeln beigewohnt, bei der er zuerst ein normales Kabel aus dem Baumarkt, dann ein "audiophiles" mit dickem Querschnitt vorgeführt bekommen habe - letzteres habe wirklich besser geklungen, das habe er sich keinesfalls eingebildet!
Meine Frage war dann nur, wie lange es denn gedauert habe, bis der Vorführer auf das andere Kabel umgeschaltet hat. Antwort: er habe gar nicht umgeschaltet, sondern das alte Kabel abgeschraubt und dann das neue an denselben Klemmen befestigt... - Alles klar! ;)
Auch die Lautstärke ist kritisch, denn der Frequenzgang des Ohrs ist stark lautstärkeabhängig. Bässe und Höhen werden erst bei zunehmend größeren Pegeln wahrgenommen, weil das Ohr da relativ umempfindlich ist - klar, denn die Evolution hat es auf maximale Sprachverständlichkeit abgestimmt. Für einen A/B-Vergleich müssen daher die Pegel von A und B exakt angeglichen sein, sonst kann man sich den Aufwand gleich sparen.
Nicht zuletzt ermüden Ohren auch irgendwann. Langes intensives Hören ist ebenso anstrengend wie konzentriertes Sehen, das Gehirn benötigt viele Pausen und reagiert auf Dauersessions mit Teilausfällen der Wahrnehmung, im Extremfall stellen sich Ausfallserscheinungen wie Tinnitus oder sogar Innenohr-Infarkte ein. Dies ist natürlich auch abhängig von der Art des Materials, der Abhörlautstärke und der Dauer der Belastung.
Daher sollte man sich nicht unbedingt einbilden, dass das, was man zu hören glaubt, auch tatsächlich zu hören ist. Jeder, der behauptet, seinen Ohren könne er trauen, macht sich etwas vor.
Nun könnte man einwenden, wenn die Hörwahrnehmung sämtliche Defizite einer Musikwiedergabe automatisch kompensiert, warum soll man sich dann um irgendwas sorgen? - Die Klangtreue wird doch in jedem Fall im Hirn-EQ regeneriert!
Guter Punkt. Was passiert aber, wenn man sein ganzes Leben mit der Sonnenbrille auf der Nase herumläuft? (Memo to myself: mal Bono fragen...)
Dann wird man die ein- oder anderen Dinge im Schatten irgendwann nicht mehr sehen können, selbst wenn man sie doch mal absetzt, denn dann ist man nur geblendet. Es passiert also nichts anderes als dass man sich sein eigenes Wahrnehmungsspektrum dauerhaft einschränkt!
Eine stark verfärbte Musikwiedergabe bedeutet so letztlich den Verlust von Auflösung bei der Wahrnehmung. Feine Details werden von anderen, im Original so nicht oder nicht so laut vorkommenden Signalanteilen überlagert. Dass ein lautes Signal ein leises im selben Frequenzbereich in der Wahrnehmung auslöscht, wissen wir spätestens seit der Erfindung von mp3 - denn darauf beruht das Prinzip der Datenreduktion: was man nicht hört, lässt man weg.
Hör-Profis haben sich einige Tricks einfallen lassen, das natürliche "Manko" der Hörwahrnehmung zu kompensieren - da die Lautsprecher nach wie vor die schwächsten Glieder der Wiedergabekette sind, gibt es in jedem Studio stets mehrere verschiedene Abhören, von riesig groß und super-neutral bis winzig klein und quäkig. Simuliert wird insbesondere auch der Klang von Auto- oder Küchenradios mit all seinen Schwächen. Zwischen den Abhören wird daher oft hin- und hergeschaltet, auch Kopfhörer kommen zum Einsatz. Die berühmte Nahfeld-Monitorbox YAMAHA NS-10M steht heute noch auf den meisten Regiepulten dieser Welt, weil sie eine Referenz für schlechten Klang darstellt - kein Scherz!
YAMAHA NS-10M STUDIO MONITOR |
Und das lässt sich auch mit der Wahrnehmung erklären: Ich hatte oben den "eingebauten Ohr-EQ" erwähnt - meine Theorie ist, dass dessen Einsatz für unser Gehirn letztlich Arbeit und Stress bedeutet; umso mehr, je stärker verfärbt und beeinträchtigt ein Klang ist - was dazu führen kann, dass die Ohren dann weit schneller ermüden als bei neutraler Wiedergabe, wo kein oder nur ein geringer Ausgleich stattfinden muss.
Die früheren Folgen dieser Serie:
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) I
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) II
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) III
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) IV
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) V
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) VI
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) VII