Dienstag, 1. Dezember 2015

Technobabble: Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) VIII

Zitat eines Lesers:
Ich habe nun den letzten Teil Deines Blogs gelesen und sicherlich hast Du in Deinen technischen Beschreibungen vollkommen recht. Aber genau das ist der Punkt: Technisch! Du schreibst, dass Du dazu neigst, Deinen Ohren nicht zu trauen.... Das macht mich traurig! Lass Deine Messtechnik im Schrank und genieße Deine 5 Sinne! Und bevor Du vorschnell antwortest: Ich bin alles Andere als ein Esoteriker!
Kein Grund zu trauern! - Vielleicht ist das mit den Ohren nicht so ganz klar, wie ich das gemeint habe: Ich weiß -letztlich durch meine eigene 23jährige Berufserfahrung als Tontechniker und Tonmeister- dass sich das menschliche Gehör ebenso leicht und schnell täuschen lässt wie so ziemlich alle anderen Sinneswahrnehmungen auch. Meine Ohren, auch wenn sie speziell geschult sind, machen da keinen Unterschied.

Die Sehwahrnehmung beispielsweise passt sich automatisch der Farbtemperatur an - schon nach kürzester Zeit hat man vergessen, dass die Sonnenbrille auf der Nase das einfallende Licht stark verfärbt - alles sieht schnell ganz normal aus und dass das nicht so ist, merkt man erst wieder, wenn man sie absetzt. Ob eine Lichtquelle eher "kalt" oder "warm" leuchtet - das Gehirn sorgt für einen automatischen Weißabgleich. Ohne eine zuverlässige Referenz ist es daher nahezu unmöglich, die Farbtemperatur einer Lichtquelle zu beurteilen. Glücklicherweise wird die in der alltäglichen Umgebung mitgeliefert - ein Blick aus dem Fenster ins "kalte" Tageslicht reicht, um eine Glühlampe daneben als "warm" zu erkennen.

Nicht viel anders ist es mit den Ohren - zu diesem Thema gibt es einen eigenen, wissenschaftlichen Forschungszweig, die Psychoakustik - dabei geht es um das spannende Zusammenspiel von empfundenen Hörereignissen und physikalischen Schallereignissen, letztlich um Wahrnehmung.
Analog zum Beispiel mit der Sonnenbrille benutzt das Gehirn stets einen fest eingebauten Equalizer, der jeden Sound in allen Frequenzbereichen nahezu perfekt "equalisiert", d.h. vorhandene Verfärbungen und Verfälschungen schnell und unbewusst ausgleicht. Das geht sogar so weit, dass Frequenzen wahrgenommen werden, die im Originalsignal gar nicht enthalten sind! - Eine Wiedergabe des tiefsten Tons einer Bassgitarre etwa (das E mit ca. 40 Hz) wird von den meisten mittelgroßen und kleinen Lautsprechern gar nicht übertragen - den Ton bilden wir uns trotzdem ein, denn wir hören seine Obertöne bei 80 und 160 Hz. Dass die Grundfrequenz 40 Hz fehlt, merken wir bestenfalls beim Umschalten auf ordentliche große Lautsprecherchassis, die tatsächlich in der Lage sind, die erforderliche Energie an die Luft abzugeben.
Auch die Tatsache, dass sich die Obergrenze der Hochtonwahrnehmung mit zunehmendem Alter allmählich nach unten bewegt, wird meist erst dann als störend empfunden, wenn die Sprachverständlichkeit leidet. Das ist aber erst dann der Fall, wenn Töne nur noch bis 4 kHz oder weniger wahrgenommen werden. Zum Vergleich: ein Säugling kann mühelos Töne bis 20 kHz und höher hören, der Grundtonbereich von Musikinstrumenten geht bis ca. 8 kHz, darüber finden sich nur noch Obertöne bis etwa 20 kHz. Auch diese Obertöne werden, sollten sie fehlen, vom Gehirn automatisch und unbewusst ersetzt. Wir können z.B. stundenlang telefonieren, ohne dass uns der dabei stark eingeschränkte Frequenzgang (typischerweise ca. 300 - 3400 Hz) stören oder auch nur auffallen würde.

Das Gehör hat zudem ein wirklich schlechtes "Gedächtnis" - bei einem A/B-Vergleich etwa ist es entscheidend, dass die Umschaltpause nur Bruchteile von Sekunden beträgt. Ansonsten sind die entscheidenden Klangeindrücke von A schon längst vergessen, bevor B zu hören ist.
Ein Freund erzählte mir erst kürzlich, er hätte es gar nicht glauben wollen, aber er habe einer Demonstration von Lautsprecherkabeln beigewohnt, bei der er zuerst ein normales Kabel aus dem Baumarkt, dann ein "audiophiles" mit dickem Querschnitt vorgeführt bekommen habe - letzteres habe wirklich besser geklungen, das habe er sich keinesfalls eingebildet!
Meine Frage war dann nur, wie lange es denn gedauert habe, bis der Vorführer auf das andere Kabel umgeschaltet hat. Antwort: er habe gar nicht umgeschaltet, sondern das alte Kabel abgeschraubt und dann das neue an denselben Klemmen befestigt... - Alles klar! ;)

Auch die Lautstärke ist kritisch, denn der Frequenzgang des Ohrs ist stark lautstärkeabhängig. Bässe und Höhen werden erst bei zunehmend größeren Pegeln wahrgenommen, weil das Ohr da relativ umempfindlich ist - klar, denn die Evolution hat es auf maximale Sprachverständlichkeit abgestimmt. Für einen A/B-Vergleich müssen daher die Pegel von A und B exakt angeglichen sein, sonst kann man sich den Aufwand gleich sparen.

Nicht zuletzt ermüden Ohren auch irgendwann. Langes intensives Hören ist ebenso anstrengend wie konzentriertes Sehen, das Gehirn benötigt viele Pausen und reagiert auf Dauersessions mit Teilausfällen der Wahrnehmung, im Extremfall stellen sich Ausfallserscheinungen wie Tinnitus oder sogar Innenohr-Infarkte ein. Dies ist natürlich auch abhängig von der Art des Materials, der Abhörlautstärke und der Dauer der Belastung.

Daher sollte man sich nicht unbedingt einbilden, dass das, was man zu hören glaubt, auch tatsächlich zu hören ist. Jeder, der behauptet, seinen Ohren könne er trauen, macht sich etwas vor.

Nun könnte man einwenden, wenn die Hörwahrnehmung sämtliche Defizite einer Musikwiedergabe automatisch kompensiert, warum soll man sich dann um irgendwas sorgen? - Die Klangtreue wird doch in jedem Fall im Hirn-EQ regeneriert!

Guter Punkt. Was passiert aber, wenn man sein ganzes Leben mit der Sonnenbrille auf der Nase herumläuft? (Memo to myself: mal Bono fragen...)
Dann wird man die ein- oder anderen Dinge im Schatten irgendwann nicht mehr sehen können, selbst wenn man sie doch mal absetzt, denn dann ist man nur geblendet. Es passiert also nichts anderes als dass man sich sein eigenes Wahrnehmungsspektrum dauerhaft einschränkt! 
Eine stark verfärbte Musikwiedergabe bedeutet so letztlich den Verlust von Auflösung bei der Wahrnehmung. Feine Details werden von anderen, im Original so nicht oder nicht so laut vorkommenden Signalanteilen überlagert. Dass ein lautes Signal ein leises im selben Frequenzbereich in der Wahrnehmung auslöscht, wissen wir spätestens seit der Erfindung von mp3 - denn darauf beruht das Prinzip der Datenreduktion: was man nicht hört, lässt man weg.

Hör-Profis haben sich einige Tricks einfallen lassen, das natürliche "Manko" der Hörwahrnehmung zu kompensieren - da die Lautsprecher nach wie vor die schwächsten Glieder der Wiedergabekette sind, gibt es in jedem Studio stets mehrere verschiedene Abhören, von riesig groß und super-neutral bis winzig klein und quäkig. Simuliert wird insbesondere auch der Klang von Auto- oder Küchenradios mit all seinen Schwächen. Zwischen den Abhören wird daher oft hin- und hergeschaltet, auch Kopfhörer kommen zum Einsatz. Die berühmte Nahfeld-Monitorbox YAMAHA NS-10M steht heute noch auf den meisten Regiepulten dieser Welt, weil sie eine Referenz für schlechten Klang darstellt - kein Scherz!
YAMAHA NS-10M STUDIO MONITOR
Und noch ein Schlusswort: da ich also weiß, dass den Ohren nicht zu trauen ist - ist es umso wichtiger, dass ich meiner Anlage, meinem kompletten Wiedergabesystem vertrauen kann. Erst dann kann ich mich zurücklehnen und die Musik genießen!
Und das lässt sich auch mit der Wahrnehmung erklären: Ich hatte oben den "eingebauten Ohr-EQ" erwähnt - meine Theorie ist, dass dessen Einsatz für unser Gehirn letztlich Arbeit und Stress bedeutet; umso mehr, je stärker verfärbt und beeinträchtigt ein Klang ist - was dazu führen kann, dass die Ohren dann weit schneller ermüden als bei neutraler Wiedergabe, wo kein oder nur ein geringer Ausgleich stattfinden muss.

Die früheren Folgen dieser Serie:
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) I
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) II
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) III
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) IV
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) V
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) VI
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) VII

Donnerstag, 12. November 2015

Technobabble: Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) VII


Zitat eines Lesers:
Ich hatte mir ja deinen technikblog durchaus durchgelesen und verstanden und für richtig befunden. Deswegen ist es mir fast unmöglich, meinen Sinneseindrucken verbal Ausdruck zu verleihen... Insofern verstehe ich deine "Vinyl-Esoteriker" Bezeichnung ganz gut, wobei ich ihn für mich gar nicht so negativ belege.
Sinneseindrücke verbal zu beschreiben, ist extrem schwierig - denn uns steht bestenfalls eine Art Hilfsvokabular zur Verfügung, das wir zwar nutzen können, von dem wir aber kaum verlässlich erwarten können, dass es so verstanden wird, wie wir es gemeint, oder besser: gefühlt haben.
Daher interessieren mich Schilderungen von solchen Eindrücken auch nicht besonders, denn sie sind stets höchst subjektiv und damit kaum nachvollziehbar. Zudem sind verallgemeinernde Ausdrücke wie "Besser" o.ä. ziemlich wertlos, weil die zugrundeliegenden Kriterien nicht bekannt oder nicht allgemeingültig sind / sein können.

Zitat eines Lesers:
Ich bin für einen PA Hersteller tätig und hab viel live gemischt und bin auch an der Entwicklung DSPs beteiligt. Ich habe generell Probleme mit "Profis", die nur anhand von Datenblätter-Lesen die Performance einer (PA) Box beurteilen a la: "die Box kann gar nicht spielen". Auch ist in meiner "Branche" das Thema Kabelquerschnitt etc. eine nicht zu unterschätzende Größe, die die Güte eines Systems ausmachen.
Letzteres könnte ich mir - ohne dass ich mich da wirklich auskennen würde - durchaus vorstellen, denn dort geht es ja schnell um Kilowatt und andere Größenordnungen. Allerdings haben PAs auch nicht den Anspruch, "Hi-Fidelity" zu klingen - dort geht es darum, einen bestimmten Sound mit einer bestimmten Wirkung so zu transportieren, dass er auf allen Plätzen bei möglichst gleich bleibender Qualität gehört werden kann.

Zitat eines Lesers:
Deswegen vertraue ich da auf meine Ohren und believe it or not: die neuen PG Vinyls haben deutlich hörbar mehr Tiefe und Stereobreite als die (remastered) CDs (an der gleichen Abhöre natürlich). Wie erklärst du mir diese Wahrnehmung !? (Ehrlich gemeint) Edit: und bitte nicht jetzt mit "weil du das so hören willst" kommen. ;)
Ich kann und will dir deine Wahrnehmung nicht erklären - das ist überhaupt nicht mein Ansatz und wäre zudem unlauter, denn die individuelle Wahrnehmung ist die subjektivste aller Angelegenheiten - bei der jeder Mensch sich zudem viel leichter täuschen kann, als er selbst das vermuten würde.
"Weil du das so hören willst", wäre ein psychologischer Erklärungsansatz, der in vielen Fällen sogar zutrifft. Es kann aber auch ganz andere Gründe haben.
Ich neige jedenfalls dazu, meinen Ohren nicht zu trauen - obwohl sie speziell geschult sind (vielleicht auch gerade deswegen). Deshalb z.B. habe ich in meinem Studio vier verschiedene Abhören (fünf mit Kopfhörer).

Ich werde aber trotzdem versuchen, auf deine Frage ausführlich einzugehen: du hörst also "mehr Tiefe und Stereobreite"...
Gut, die Stereobreite ließe sich messtechnisch recht einfach erfassen - das ist letztlich das Verhältnis zwischen Mitten- und Seitenanteil in einem Stereosignal. Hier wäre ich bei Vinyl sehr skeptisch, ob es technisch überhaupt möglich ist, "breiter" zu klingen, denn beim Vinylschnitt wird der Seitenanteil (der für diesen Eindruck verantwortlich ist) relativ streng limitiert, weil man vermeiden will, dass die Nadel aus der Rille springt - die Gefahr besteht immer, wenn sich die beiden Stereokanäle im Pegel zu stark voneinander unterscheiden. Daher werden insbesondere die Bässe unterhalb einer bestimmten Frequenz einfach zu Mono zusammengemischt (Mono bedeutet: 100% Mitten-, 0% Seitenanteil im Stereobild). Das ist übrigens auch der Grund, warum basslastige Instrumente (Bassdrum, Bassgitarre etc.) schon beim Abmischen fast immer in die Mitte gelegt werden - im Digitalzeitalter gäbe es die Notwendigkeit nicht mehr, aber für Vinyl war das halt geboten - jetzt gehört es zur Tradition. Für höhere Frequenzen ist das zwar allgemein unkritischer, jedoch verhindert auch die beim Vinyl systembedingt geringe Übersprechdämpfung zwischen den Kanälen eine allzu weite Spreizung der Stereobasis.

Für die Wahrnehmung eine große Rolle spielt jedoch auch die Phasenlage des Stereosignals. Beim Vinylschnitt wird der Schneidstichel immer exakt tangential geführt, die Abtastung mit dem üblichen, seitlich gelagerten Tonarm hat jedoch immer einen mehr oder weniger großen Winkelversatz. Dies führt zu Phasenfehlern, die sich hörbar auswirken können.
Unser Gehirn wertet bei der Beurteilung der Position einer Schallquelle (unter anderem) die Laufzeitdifferenzen zwischen beiden Ohren aus. Ein Schallereignis, das meinetwegen schräg rechts vom Kopf entsteht, trifft früher auf das rechte Ohr als auf das linke. Das führt dann beim Vergleich mit vorliegenden Erfahrungswerten im Gehirn zu der Richtungswahrnehmung "schräg rechts". Phasenfehler sind letztlich nichts anderes als Laufzeitdifferenzen zwischen linkem und rechtem Kanal, die daher zu einer Fehlortung bei der Richtungswahrnehmung führen können. So ließe sich der Eindruck einer größeren Basisbreite vielleicht wissenschaftlich erklären. Die Phasenlage eines Stereosignals lässt sich natürlich ebenfalls messtechnisch erfassen, allerdings ist sie ja stark abhängig vom jeweiligen Abtastsystem, die Messergebnisse wären daher kaum übertragbar.

"Tiefe" ist ein Begriff, der für einen Sinneseindruck steht, der auf vielerlei Weise zustande kommen kann, für den es aber leider keine messtechnische Größe gibt. Bei der Stereo-Abmischung einer Aufnahme kann man eine Illusion von Tiefe beispielsweise durch einen größeren Hallanteil erzeugen. Auch das EQing spielt eine Rolle. Einzelsignale mit mehr Hall (bzw. längerem Predelay) und gleichzeitig weniger Bässen und Höhen scheinen aus größerer Distanz zu kommen als "trockene" Signale - einfach weil das der natürlichen Hörerfahrung entspricht. Dies kann hier natürlich nicht gemeint sein, da es sich ja nicht um eine andere Abmischung handelt, aber du siehst vielleicht, wie schwer nachvollziehbar solche subjektiven Begriffe sind.

Letztlich sind Eindrücke wie diese Anzeichen dafür, dass das Gesamtsystem Vinyl nichts mit "High Fidelity" zu tun hat. Denn wäre dies so, könnte man keinen Unterschied zwischen digitalem Master und der Vinylwiedergabe feststellen. Der Unterschied ist jedoch - da wird mir niemand widersprechen - beachtlich. Ob man das gut oder schlecht bewertet, ist Geschmacksache, aber darum geht es mir wie gesagt nicht. 

"High Fidelity" oder "höchste Klangtreue" war seit Anbeginn der Geschichte der Schallaufzeichnung die oberste Maxime aller Erfinder und Entwickler, die praktisch das ganze 20. Jahrhundert hindurch unermüdlich Verbesserungen ausgedacht und zur Industriereife gebracht haben - und die Verbraucher haben dieses Ideal dankbar angenommen und sich zu eigen gemacht. Wäre dem nicht so, würden wir Musik heute noch in Wachszylinder geschnitzt hören müssen.
Auch die Schallplatte selbst hat über 60 Jahre lang stetige Verbesserungen in Sachen Klangtreue erfahren dürfen. Nur wenige Nostalgiker sehnen sich heutzutage nach krächzenden Grammophontrichtern, Schelllackplatten und Stahlnadeln zurück. In den 1950er Jahren kam das Vinyl, Füllschrift und damit die "Langspielplatte", später dann Stereo und sogar Quadro (wobei Letzteres allerdings enorme technische Probleme hatte).
Die letzte Verbesserung, "Direct Metal Mastering" wurde erst Anfang der 1980er Jahre erfunden und hat eine deutliche Qualitätsverbesserung in Sachen Klangtreue zur Folge gehabt, denn gleich mehrere verlustbehaftete Arbeitsschritte in der Fertigung konnten so eingespart werden. Antriebsfeder auch hier war jedoch "High Fidelity" und mit den "DMM"-Aufklebern hatte man eine zeitlang stolz auf den Covers werben können.
Jeder wollte Klangtreue - damals war es unter uns Audio-Fans extrem verpönt, wenn jemand den Bass- oder Höhenregler an seinem Verstärker aus der Nullstellung bewegt hat. Später gab es die True-Bypass-Schaltungen für die Klangregelung an hochwertigen Verstärkern - der Klang sollte um keinen Preis verfälscht werden, nicht mal durch einen im Weg liegenden EQ in Nullstellung.

Mit der Digitalisierung ist jedoch etwas ganz Entscheidendes passiert: erstmals war man mit dieser Technik in der Lage, sämtliche verfälschende Einflüsse eines Tonträgers komplett auszuschließen - zwischen dem Tonstudio und dem Endverbraucher war dadurch erstmals eine verlustfreie "Übertragung" möglich - das Ideal war also nach gut 100 Jahren Schallaufzeichnung endlich erreicht.
Das mag nun jeder nach seinem Geschmack schätzen oder nicht - ich jedenfalls will nach wie vor die Musik möglichst so hören, wie sie im Studio geklungen hat - ich will kein Wiedergabesystem, das mir etwas anderes vorgaukelt - auch dann nicht, wenn ich das dann womöglich "schöner" fände.

Zitat eines Lesers:
...kann ich alles gut nachvollziehen....
Dennoch finde ich den Ansatz "so wie der Musiker/Produzent im Studio" fehlerhaft, da das ja die original Bedingungen (vom "Band" über Pult bis hin zur identischen Abhöre und Studioakustik) vorraussetzen würde, die niemand jemals simulieren kann.
Das stimmt so nicht. Das, was ein A/D-Wandler im Studio aufgezeichnet hat, bekomme ich mit der Digitaltechnik ja verlustfrei nach Hause geliefert - Mikrofone, Aufnahmetechnik und Mischpulte spielen also keine Rolle. Die Akustik in modernen Studios einschließlich der Monitorboxen ist extremst auf Neutralität (=Klangtreue) getrimmt. Das muss so sein, damit man das, was man vor Ort hört, überhaupt als Referenz nutzen kann. Anders könnte man dort keine verlässliche Abmischung fahren, d.h. es würde nur dort "gut" klingen und nirgendwo sonst.
Hält man das Neutralitätsprinzip durch, benötigt man keinesfalls dieselben Bedingungen oder Geräte zuhause - im Gegenteil. Insbesondere Studioboxen klingen u.U. in einem Wohnzimmer gar nicht mal so gut, weil sie die Neutralität der Studio-Raumakustik voraussetzen, die da nicht gegeben ist.

In jedem Fall: Der große Vorteil einer auf Neutralität optimierten Anlage ist die beliebige Austauschbarkeit der Einzelkomponenten - eben weil diese ja neutral sind und keinen eigenen Anteil am Klang haben. Sobald Musik, egal welcher Art, im Studio "gut" klingt, wird sie auch auf jeder anderen neutralen Anlage "gut" klingen. Abstriche gibt es natürlich, weil Klangtreue ein Ideal ist, das nur angestrebt, aber nicht überall erreicht werden kann.
Wirkliche Kompromisse müssen heutzutage aber nur noch bei den Lautsprechern und der Akustik des Hörraums gemacht werden - da ist neutraler Klang letztlich eine Frage des Aufwands.

Wenn Klangtreue/Neutralität kein allgemein gültiges Ideal wäre, auf das sich längst alle (Hersteller wie Kunden und selbst die Presse) committed hätten, würde jedes analoge Gerät in der Kette seine eigene Verfälschung/Verfärbung des Signals hinzufügen, was in der Folge dazu führen würde, dass bestimmte Geräte sich für spezielle Musikgenres besser eignen als für andere. Bei Lautsprechern, die wie gesagt am wenigsten neutral sind, haben wir das Phänomen bereits, dass sich einige eher für Rock, andere eher für Klassik etc. eignen.

Da ist es schon interessant, dass Klangtreue bei Vinyl plötzlich nicht nur keine Rolle mehr spielen soll, sondern das Fehlen derselben exakt das ist, was der Hörer nach 35 Jahren Digital Audio mehr zu schätzen glaubt, als die nach Jahren des Wartens endlich erreichte Neutralität und letztlich die Unabhängigkeit von einem physischen Tonträger.



Die nächste Folge dieser Serie:
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) VIII 

Die früheren Folgen dieser Serie:
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) I
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) II
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) III
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) IV
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) V
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) VI
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) VII

Montag, 9. November 2015

Technobabble: Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) VI

In einem Artikel des Musikmarkt habe ich unlängst diese schöne Grafik gefunden, die den ganzen Vinyl-Hype so herrlich anschaulich illustriert hat:

Grafik: Billboard
Wow - das geht ja richtig ab durch die Decke - alle Welt kauft also nur noch Vinyl und zwar inzwischen dreimal mehr als CDs und Downloads? - Ist ja der Hammer - naja, jetzt nicht ganz unerwartet, schreiben doch alle Gazetten dasselbe: Vinyl boomt unglaublich und hat die CD längst abgelöst, keiner kauft noch den silbernen Plastikschrott, sondern alle Welt gibt sich wieder dem ach so beruhigendem Rillenrauschen mit Lagerfeueratmo hin! Wunderbar. Priceless.

Diese Grafik ist ein schönes Beispiel für die übliche Desinformation, mit der in nahezu allen Medien gearbeitet wird, wo von einem "Vinyl-Boom" zu lesen ist. Hier nur auf die Spitze getrieben.
Die Kurven für sich genommen sind dabei nicht falsch - sicherlich haben die Vinylverkäufe zugenommen und dass die Verkaufszahlen für CDs und Download abgenommen haben, ist ebenfalls zutreffend. Ich halte es nur für überaus unseriös, diese Kurven -jedenfalls so wie in dieser Grafik- nebeneinander zu stellen. Denn es soll ja ein direkter Vergleich zwischen beiden Kurven impliziert werden - dies ist jedoch nicht möglich, wenn den Kurven zwei unterschiedliche Maßstäbe (für die y-Achse) zugrunde liegen. Wenn man genau hinschaut und auch den Text liest, wird man schnell feststellen, dass die Vinylkurve um den Faktor 100 vergrößert dargestellt ist. Würde man beide Kurven im selben Maßstab bringen, wäre die Bildaussage weit weniger spektakulär:

Bereinigt: Beide Kurven im selben Maßstab
Genau hinschauen: der schmale rote Streifen untem am Rand sind die Vinylverkäufe - ich habe mir die schwarze Linie mit dem Pfeil gespart, weil diese sonst das Rot komplett bedeckt hätte. Und ich habe dabei sogar noch aufgerundet: die rote Kurve hatte in der Originalgrafik noch ein Maximum von 297 vertikalen Pixeln - ich habe sie auf 3 Pixel reduziert (bei natürlich unveränderter horizontaler Pixelzahl).
Sieht jetzt echt explosiv aus! ;)


Der Vergleich zwischen beiden Kurven ist übrigens auch noch aus einem anderen Grund unzulässig - die Digitalkurve ignoriert nämlich, dass die Verkaufszahlen hauptsächlich deswegen zurückgegangen sind, weil die Hauptzielgruppe der Musikkonsumenten mehr und mehr zu Streaming-Diensten wie "Spotify" wechselt - mithin eine weitere Art, Musik digital zu konsumieren, die hier jedoch offensichtlich unberücksichtigt bleiben sollte, weil die Kurve sonst auf dem Niveau von 2010 stehen geblieben oder vielleicht sogar wieder angestiegen wäre, statt weiter so anschaulich zu fallen.
Ich darf mal Wikipedia zitieren, um zu zeigen, dass das keine marginalen Zahlen sind:
"Im Jahr 2011 machte Streaming inklusive der werbefinanzierten Angebote 11,5 Prozent der digitalen Umsätze mit Musik aus, 2013 waren es bereits 20 Prozent. Der Gesamtumsatz mit Abostreaming überschritt in diesem Jahr [2014, Anm. tom] die Grenze von 1 Milliarde US-Dollar bei einem Gesamtvolumen des weltweiten Musikmarkts von 15 Milliarden. Damit löste das Streaming als wachsender Markt die Musikdownloads ab, die parallel dazu das schnelle Wachstum der davor liegenden Jahre nicht mehr fortsetzen konnten."


Die nächsten Folgen dieser Serie:
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) VII
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) VIII 

Die früheren Folgen:
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) I
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) II
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) III
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) IV
Vinyl vs. CD (Wahn und Wirklichkeit) V

Donnerstag, 5. November 2015

GUY GARVEY - Courting the Squall (2015)

(Pic by Amazon)

Ich hege große Sympathien für Elbow und ihren allseits gelobten Sänger Guy Garvey, habe die Band im letzten Jahr erstmals live gesehen und besitze auch die letzten vier Studioalben, die mir im Großen und Ganzen sehr gut gefallen. Die Frage ist natürlich immer, erwartet man bei einem Soloalbum ungefähr dasselbe wie von einem neuen Bandalbum - oder wenn es schon verschieden ist, gibt es einen hörbaren Benefit - gefallen die Unterschiede so, dass man es nicht schade findet, dass diese Songs nicht mit der Band eingespielt wurden?

Der Pressetext gibt die Richtung vor: "Anders als bei elbow, wo schon immer demokratisch abgestimmt wurde, ist Courting the Squall ein Album, bei dem Guy Garvey letztlich alle Fäden in der Hand hatte, um ganz allein seine Vision und seine Gefühle zu vertonen. „Insgesamt basiert Courting the Squall auf jenen Einflüssen und Ideen, die „einfach nicht ins elbow-Universum passen“, so Garvey."
Wieso diese Songs nicht zu Elbow passen sollen, erschließt sich mir jedoch nicht wirklich, denn angelegt und strukturiert sind sie wie "normale" Elbow-Songs, es gibt dieselben Harmonien, dieselbe schwebende, ruhige, minimalistische Rhythmik, denselben Gesangsstil - was ich jedoch fast schmerzhaft vermisse, sind die anderen Elbow-Musiker - die "Ersatzmannschaft", die hier am Start ist, weiß anscheinend nicht so richtig, wie sie mit diesen Songs umgehen soll. Die Musiker agieren sehr zurückhaltend, fast übervorsichtig - das hinterlässt bei vielen Songs ein Vakuum, so dass viele kluge Ideen ins Leere zu laufen scheinen. Dadurch entsteht schnell der Eindruck, hier handele sich um eine Sammlung von Elbow-Outtakes; Songs, die keiner so richtig wollte.
Dennoch kein schlechtes Album - man sollte nur nicht zu viel erwarten...


Mittwoch, 28. Oktober 2015

Technobabble: Dolby Atmos

Mehrkanaltonformate haben natürlich nur am Rande mit Musik zu tun - abgesehen von der relativ kurzen Phase in den 1970er Jahren, in denen versucht wurde, die Quadrophonie als Nachfolger der Stereophonie als reines Audioformat zu etablieren (was damals in erster Linie an der Unzulänglichkeit der damaligen Technik gescheitert war), konnten sich alle späteren Mehrkanal-Aufzeichnungs- und Übertragungsformate nur etablieren, weil mit dem boomenden "Heimkino"-Markt ein preiswertes und allseits kompatibles optisches Speicherformat eingeführt wurde: die DVD. 5.1 Surround in Dolby Digital und DTS gab es damit von Anfang an auch für die Kunden, die den Ton zuhause noch über die im Fernseher eingebauten Quäken hörten. Heimkino-Anlagen mit sechs und mehr Lautsprechern wurden in den Folgejahren preiswerter, kleiner und damit auch beliebter. Musik wurde mit diesen eher für Soundtracks optimierten Anlagen natürlich auch gehört, und trotz der weithin als gescheitert angesehenen Versuche, mit DVD-Audio und SACD zwei Formate für hochauflösendes Mehrkanal-Audio zu etablieren, wurden und werden in ansteigender Zahl weiterhin Musikalben in Surround veröffentlicht, viele darunter sind Wiederveröffentlichungen, oft in aufwändiger Verpackung als "Superdeluxe-Edition" für Liebhaber - mit entsprechender Preisgestaltung, mit der sich dann auch Kleinauflagen rechnen - sehr zur Freude der Tonträgersammler, die es nach wie vor immer noch gibt.

Inzwischen ist die Blu-ray als universelles Discformat längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen und hat auch SACD und DVD-Audio beerbt. Die Blu-ray wurde von Anfang an als offener Standard eingeführt, d.h. anders als bei der DVD sollten hier technische Weiterentwicklungen nicht ausgeschlossen sein, neue Codecs für Bild und Ton sollten so die Zukunftsfähigkeit des Mediums sichern. Dies führte in der Vergangenheit leider oft dazu, dass neuere Blu-rays auf älteren Spielern nur per nachgeschobenem Software-Update zum Laufen zu bewegen waren, wenn überhaupt. In den meisten Fällen waren es neue Authoring-Tricks, die nicht ganz abwärtskompatibel waren, manchmal aber auch größere Erweiterungen des Standards wie die Einführung von 3D. Für die Industrie ein Segen, bedeutet es doch, dass ein Blu-ray-Player, wenn er nach wenigen Jahren schon aus dem Update-Support des Herstellers herausgeflogen ist, schneller veraltet ist als er durch Verschleiß kaputt gehen kann - der Kunde hat dann nur noch die Wahl, auf neuere Discs zu verzichten, oder sich endlich einen neuen Player zu kaufen - und ggf. einen neuen Receiver und Fernseher gleich mit.

Beim Blu-ray-Ton hatte sich lange nichts getan. Den letzten größeren Schnitt gab es Ende 2006, als mit HDMI 1.3 eine volldigitale Schnittstelle zum Standard wurde, die erstmals auch das Streaming von Dolby TrueHD und DTS-HD Master Audio ermöglichte - den beiden (verlustfreien) Standardformaten der Blu-ray. Damit waren die anachronistischen analogen Multichannel-Verbindungen (sechs Cinch-Kabel zwischen Player und Receiver) obsolet geworden.

Zum großen Bedauern der Industrie nahmen diese Receiver noch bis vor kurzem alle möglichen Digitalformate an ihren Eingängen problemlos entgegen, also musste dringend etwas Neues her, das den Kunden dazu motivieren sollte, sein Heimkino erneut einem teuren Update zu unterziehen. Dies passte perfekt zu den parallelen Bestrebungen der Firma Dolby, das an DTS verlorene Terrain zurückzugewinnen - anders als bei der DVD-Video, wo Dolby Digital eins der Pflichtformate und DTS stets nur optional angeboten werden durfte (es darf daher bis heute keine DVD geben, die ausschließlich DTS als Tonformat anbietet) - war DTS-HD Master Audio von Anfang an ein Standardformat für Blu-rays - jeder Spieler musste es daher unterstützen. Dummerweise stellte sich DTS-HD MA auch noch als das unkompliziertere Format heraus; in der Folge verlor TrueHD zunehmend Marktanteile.
Ein neues Format musste also her und es musste entsprechend beworben werden:



Wow, was für ein Name! - "Atmos", das klingt nach griechischer Gottheit oder wenigstens nach einer griechischen Sonneninsel; suggeriert in jedem Fall Erhabenheit. 2012 eingeführt, gab es das anfangs nur für einige wenige ausgewählte Kinos (die dafür vermutlich horrende "Atmos-Zuschläge" verlangten).
Neu bei Atmos ist die im Prinzip unlimitierte Anzahl der Tonkanäle - die erste Generation des "Dolby Atmos Cinema Processors" (ein spezieller Computer, der für die Kino-Wiedergabe unerlässlich ist) erlaubt bis zu 128 diskrete Kanäle und bis zu 64 diskrete Lautsprecherausgänge. Die Idee dahinter ist nicht neu, schon Pete Townshend experimentierte in den 1970er Jahren mit einem Lautsprecher-Array, das einen Hörraum fast lückenlos umschließen sollte. Atmos sieht allerdings explizit Kanäle für die Beschallung von der Decke vor - ideal für z.B. Hubschrauber-Überflüge.

Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich Atmos daher als eine Mischung aus gewöhnlichen Surroundkanälen mit festem Bezug zu einzelnen Lautsprechern und Spezialkanälen, die für bewegte "Sound-Objekte" vorgesehen sind. Ein Atmos-Signal besteht daher aus drei Komponenten:

"Bed-Audio" - das sind die konventionellen, kanalbezogenen Signale, die einem üblichen 7.1 oder 9.1 Setup mit bis zu vier Deckenlautsprechern entsprechen,
"Object-Audio" - dies sind spezielle Kanäle für frei im Raum bewegbare Einzelgeräusche mit automatisierten Richtungsänderungen,
"Dolby Atmos Metadata" - dies sind die Daten, die für das Rendern der "Object-Audio"-Signale erforderlich sind und in erster Linie daher die benötigten Richtungsinformationen enthalten.

Vereinfachend könnte man sagen, dass es den Dolby-Entwicklern darum geht, die heutige Standard-Anordnung eines Surround-Setups von fünf oder sieben Lautsprechern, die alle auf einer einzigen Ebene (Ohrhöhe) abstrahlen, um eine dritte Dimension, die Höhe, zu erweitern. Mit Atmos ist es prinzipiell möglich, bis zu 118 verschiedene "Audio-Objekte" frei in einem Raum zu platzieren bzw. sie im Raum gezielt bewegen zu können.
Der Ansatz, dies unabhänging von der Anzahl der tatsächlich vorhandenen Lautsprechern zu schaffen, wurde durch die Not geboren, nicht jedem Kino- (und schon gar nicht dem Heimkino-) Besitzer vorschreiben zu können, wo und wie viele Lautsprecher er tatsächlich zu stellen oder zu hängen hat und wieviele Kanäle seine Anlage in der Lage ist, gleichzeitig wiederzugeben.
Dolby wirbt daher damit, dass ein Atmos-System diese Wiedergabe-Bedingungen automatisch erkennt. Daher werden die Audio-Objekte von einem speziellen Computersystem in Echtzeit gerendert. Der Computer weiß durch die mitgelieferten Metadaten, wo ein Audio-Objekt sich befinden soll, verrechnet dies mit den ihm bekannten Positionen der angeschlossenen Lautsprecher und weist diesen Lautsprechern dann exakt den Signalanteil zu, den das Ohr benötigt, um das Geräusch dort zu lokalisieren, wo es beabsichtigt ist. Je mehr Lautsprecher und -kanäle dafür zur Verfügung stehen, desto präziser soll das Ergebnis sein. In einem High-Tech-Großraumkino sicher kein Problem, aber in einem Wohnzimmer?

Ja, auch im Wohnzimmer soll Atmos Vorteile bringen, lässt uns Dolby wissen. Offenbar ist den Entwicklern sogar die Problematik bekannt, dass in den meisten dieser Hörstuben alles andere als ideale Abhörbedingungen existieren - auch, dass die meisten Hörer nicht einmal in der Lage sind, die vorhandenen Lautsprecher optimal aufzustellen. Sie wissen auch, dass der Trend eher zu "virtual Surround" geht und die Leute daher "Soundbars" bevorzugen, die meist unter dem Fernseher liegen und mit allerlei Phasenschweinereien einen Surroundklang zu imitieren versuchen. Trotzdem schlagen sie allen Ernstes eine Aufrüstung auf bis zu vier zusätzliche Deckenlautsprecher vor. Falls Deckenlautsprecher gar nicht gehen, sollen es auch Standlautsprecher auf Ohrhöhe tun, die eine zusätzliche Membran aufweisen, die nach oben gerichtet zur Decke abstrahlt und den Schall so reflektiert. Was sowas mit der eben verkündeten Präzision der Ortung zu tun hat, wissen allerdings nur die Dolby-Leute. Nun denn - es hat in der Vergangenheit schon mehrfach Versuche gegeben, die Lautsprecherzahl im Heimkino zu steigern, bisher konnte sich neben 5.1 kaum etwas anderes durchsetzen. Meine Prognose ist die, dass sich das auch durch Atmos nicht ändern wird.

Tatsächlich gibt es Dolby Atmos inzwischen auch für Blu-rays - zumindest sind einige wenige Titel bereits mit diesem Label erschienen - dass dies jedoch in erster Linie eine Marketing-Masche ist, sollte auf der Hand liegen. Es fängt schon damit an, dass ein Blu-ray-Player oder AV-Receiver niemals 118 Audio-Objekte in Echtzeit rendern könnte - die im Heimgerätebereich verwendeten Prozessoren sind dafür viel zu lahm und die Maximaldatenrate einer Blu-ray ist ohnehin auf 48 Mbit/s begrenzt - Video inklusive. Die statischen Kanäle sind nicht das Problem - es ist vergleichsweise einfach, ein paar zusätzliche diskrete Signale für die Decke mitzuführen. Die Vorteile der von Atmos gezielt berechneten Audio-Objekte wird man jedoch bestenfalls für einige wenige, besonders auffällige Geräusche wahrnehmen können. Atmos auf Blu-ray bedeutet also immer, dass es sich um einen gegenüber dem Kino-Original deutlich limitierten Downmix handelt.

Zudem dürfte es nur für einige wenige Blu-ray-Player und AV-Receiver Firmware-Updates geben - wie oben erwähnt ist das aus Sicht der Industrie ja auch nicht der Sinn der Sache. Aber selbst dann wäre immer noch ein neues Set Lautsprecher und die Neuverkabelung des Wohnzimmers erforderlich. Ob man sich das wirklich zumuten möchte, muss jeder selbst entscheiden.
Zum Glück ist Atmos eingebettet als eine Erweiterung der bestehenden Formate Dolby TrueHD oder Dolby Digital Plus - jeder AV-Receiver, der mit den zusätzlichen Informationen von Dolby Atmos nichts anzufangen weiß, kann in jedem Fall die "Core"-Informationen von TrueHD decodieren, liefert dann also wie gewohnt "normales" 5.1 oder 7.1 Surround - und wenn man so am Ende gar nichts vermissen sollte, würde mich das nicht groß überraschen.

Atmos auf Blu-rays nützt zwar also nicht unbedingt viel, richtet allerdings auch keinen größeren Schaden an, es sei denn, ein zusätzlicher Aufkleber mit dem Atmos-Logo führte zu einer messbaren Verkaufspreissteigerung - was keinesfalls auszuschließen sein dürfte; immerhin sind Blu-rays mit dem "3D"-Logo ja auch bis zu 100% teurer als "normale".

Montag, 14. September 2015

DAVID GILMOUR - Rattle That Lock (2015)

Erster Durchlauf...

Kurz ein paar Notizen während das neue Gilmour-Album läuft - die allerersten Eindrücke konnte man ja bereits vorab mit den beiden veröffentlichten "Singles" Rattle That Lock und Today gewinnen. Nun also alle 10 Tracks - Gesamtlaufzeit: 51:25 min

5 A.M. - ist ein athmosphärisches Instrumental (den Satz "hätte auch von Pink Floyd sein können" erspare ich mir jetzt und für den Rest dieser Kurzrezi) das sich gut als Opener eignet. Wunderschöne Sologitarre (auch den Satz könnte ich mir sparen).

Rattle That Lock - hatte ich jetzt einige Wochen nicht mehr gehört; scheint erstaunlicherweise in der Zwischenzeit jedoch deutlich besser geworden zu sein. Musste man sich wohl erst etwas dran gewöhnen.

Faces of Stone - Ein paar vereinzelte Pianotöne mit langem Nachhall sorgen für einen leicht melancholischen Anfang, danach erwartet man beinahe ein spärisches Stück mit Synthieflächen, bekommt jedoch eine akustische Gitarre im Dreivierteltakt, die sich zur voll instrumentierten Ballade mit leichten Referenzen an "The Division Bell" entwickelt - die Klarinette (oder was immer das ist) erinnert stark an den Mittelteil von Poles Apart. Ich wollte es zwar nicht nochmal schreiben, aber kann nicht anders: großartiges Gitarrensolo. Nachtrag: Zweitbester Song von allen!

A Boat Lies Waiting - das ist das Stück, bei dem David Crosby und Graham Nash die Backing Vocals beigesteuert haben. Die drei Stimmen klingen ausgezeichnet zusammen, verschmelzen fast zu einer einzigen. Die erste Hälfte des Songs ist jedoch rein instrumental-sphärisch mit hübschen Gitarrentupfern. Leider ist das Stück über den größten Teil ohne Rhythmus und wirkt dadurch etwas langatmig.

Dancing Right In Front Of Me
- Ein weiteres, eher langsames Stück, das jedoch keinesfalls langweilig wird, weil Arrangement und Rhythmus mehrmals überraschend variiert werden. Bei ca. Minute drei sind wir beim "Cool-Jazz" angekommen, aber nur kurz, dann geht es wieder zur Strophe zurück.

In Any Tongue - hier haben wir eine weitere Ballade im typischen Gilmour-Stil. Auch die Drums könnten von Nick Mason sein. Schöne Streicher im Background - guter Gesang. Dass nach dem zweiten Piano-Intermezzo dann das Gitarrensolo kommt, war absolut vorhersehbar. Die Struktur erinnert stark an Comfortably Numb. Nachtrag: Trotz der Berechenbarkeit klar der beste Song des Albums.

Beauty - auch hier wieder ein typisches Pink Floyd-Intro, das gut die Hälfte dieses mit 4:28 min relativ kurzen Instrumentals einnimmt. Im zweiten Teil gibt's dann die typische "Motorcycle-Guitar", die man so auch schon ein paarmal von ihm gehört hat.

The Girl in the Yellow Dress
- "says yes" - witziger Reim, schöne Zeile. Diesen Song kannte man schon von der kurzen YouTube-Live-Performance beim Autorenseminar im Borris House. Hier ist der ganze Song geprägt vom Besenschlagzeug, das einen langsamen Swing im Nachtclub-Format begleitet. Mit allem Drum und Dran, also Saxofonsolo etc. Nicht ganz mein Fall, aber mal was anderes...

Today - ein gepflegter Kirchenchor samt Orgel leitet diesen vergleichsweise schnellen Song ein, den man an dieser Stelle in der Dramaturgie des Albums zu schätzen weiß. Könnte noch etwas mehr abgehen, und etwas weniger Streicher und Sphärenklänge hätten auch nicht geschadet. Erinnert etwas an die "About Face"-Phase mit den etwas sperrigeren Songs.

And then... - hier verliert Gilmour keine Zeit und startet direkt mit seiner Black Strat durch, die eine weitere klassische Instrumental-Ballade einläutet. Schönes Solo (schon wieder) und für den Schluss hat er sich eine akustische Gitarre aufgehoben, die dann in Lagerfeuergeräuschen mit schreiendem Käuzchen untergeht.


Größtes Manko des Albums: alle Songs werden ausgeblendet - das hätte nun wirklich nicht sein müssen! Trotz der überwiegend nicht gerade flott zu nennenden Rhythmen ist dieses Album jedoch weit weniger langweilig als "On an Island", was aber auch nicht schwierig war. Zugemutet wird dem geneigten Hörer hier wenig, es gibt kaum Ecken und Kanten, an denen man sich stoßen könnte, ohne dass man den Eindruck bekäme, das alles schon viel zu oft gehört zu haben. Kein Feuerwerk der Innovation, aber sicher auch kein ausgelutschtes Selbstzitat. Nach dem Durchlauf macht sich ein wenig ein seltsames Gefühl breit, als hätte irgendwas gefehlt, was man erst noch suchen und finden müsste.
Dennoch: Macht Spaß zu hören und wird nicht der letzte Durchlauf bleiben!
Nachtrag: Auch dieses Album "wächst" mit weiteren Durchläufen - erfordert also vielleicht etwas Geduld, was aber durchaus belohnt wird. Die Surroundfassung ist natürlich klanglich spitze und macht besonders dann Spaß, wenn man die Stereofassung schon "gewohnt" ist. Die Extra-Tracks auf der Blu-ray sind eher etwas enttäuschend. Vom "Borris House" bekommt man nur das Interview, leider fehlen die von Gilmour live gespielten Songs und die Barn Jams sind natürlich historisch bedeutsam und schon wegen Rick Wright sehenswert, aber musikalisch nicht gerade die Offenbarung.

Montag, 10. August 2015

PROCOL HARUM - Procol Harum/Shine On Brightly (1967/68 - Reissue 2015)

Procol Harums eponymöses Debütalbum, das in meiner verstaubten Repertoire-CD-Version noch "A Whiter Shade Of Pale" hieß, obwohl dies der Titel der späteren, um eben jene berühmte Single ergänzten Neuausgabe war, wurde in diesen Tagen zusammen mit den Folgealben "Salty Dog" und "Home" von den britischen Reissue-Spezialisten Esoteric Records als 2CD-Digipak neu veröffentlicht mit vielen bisher unveröffentlichten Bonustracks. Da lohnt sich schon ein näherer Blick.

CD1 beginnt mit dem bekannten Album selbst in der gewohnten Mono-Fassung - obwohl Stereo 1967 durchaus schon üblich war, hielt Producer Denny Cordell damals wohl nichts davon. Also gab es keinen Stereomix bis offenbar 1971 - einige der Stereo-Bonustracks tragen den entsprechenden Zusatz. Schön ist, dass die Tracklist hier streng dem UK-Original folgt - ohne die Singles A Whiter Shade of Pale und Homburg, die samt B-Seiten die ersten Bonustracks darstellen, natürlich ebenfalls in Mono und mit allen Songs in der ursprünglichen Reihenfolge.

Das Booklet liefert dazu viele interessante Infos - so war mir z.B. unbekannt, dass die berühmte Debutsingle, die sofort #1 in UK und #5 in US war, noch mit einer vorläufigen Band-Besetzung ohne Gitarrist Robin Trower und Drummer B.J.Wilson aufgenommen war, die erst später dazustießen (in den Videos dazu sind sie aber schon vertreten). Interessant ist auch die Geschichte des Tantiemen-Streits zu A Whiter Shade of Pale - bekanntlich hat Matthew Fisher in 2005 Klage eingereicht, weil sein Orgelspiel seiner Meinung nach eine Mitautorenschaft rechtfertigen würde - in letzter Instanz hatte das House of Lords 2009 schließlich zu seinen Gunsten entschieden, jedoch bekommt er die Tantiemen erst ab 2005, weil er so lange mit der Klage gewartet hatte. Nun ist A Whiter Shade of Pale ja ein Amalgam aus mehreren Stücken von J.S.Bach, das ändert meiner Meinung nach aber nichts daran, dass die Orgelmelodie, die unbestritten Fishers eigene Schöpfung ist, hier so prägnant ist, dass er von Anfang an als Mitautor hätte gelten müssen. Das gleiche gilt auch, finde ich, für einige andere Stücke des Albums.

Obwohl das Booklet sicherlich informativ ist, halte ich Chris Welchs Begleittext zur Repertoire-CD von 1997 wesentlich gelungener und interessanter. Dort zitiert er z.B. Gary Brooker, der ein wenig beklagt, dass sie die Stücke für das Album zwei Jahre lang komponiert, arrangiert und eingeübt hatten und es letztlich in nur zwei Tagen ohne Zeit für besondere Sorgfalt praktisch live aufnehmen mussten. Brooker bedauert an anderer Stelle auch die Entscheidung, die Singles nicht mit auf das ursprüngliche Album zu packen. Auch wenn dies in den 1960er Jahren gängige Praxis war, habe dies doch deutlich die Verkaufszahlen des Albums beeinträchtigt. Das Esoteric-Booklet listet zudem zwar die Bonustracks auf, geht aber nicht allzu tief ins Detail, was die Entstehung der jeweiligen Aufnahmen angeht - so wüsste ich gern, zu welchem Anlass diese "1971 Stereo Mixes" erfolgt waren und ob es sich dabei um dieselben Takes des Monoalbums oder um Alternativtakes handelt.

Vor Jahren hatte ich auf einem Greatest-Hits-CD-Sampler eine Stereoversion von A Whiter Shade of Pale entdeckt, den ich mir jedoch nicht gekauft hatte, weil ich solche Sampler nicht besonders mag. Dennoch hatte ich später diesen Sampler gesucht, aber nie wieder gefunden. Zwar ist die berühmte Monofassung der Single und der US-Version des Albums schon toll genug, aber die Alternativ-Version, mit der hier CD2 beginnt, ist nicht nur astrein abgemischtes Stereo (Hammond links, Vocals, Bass und Drums Mitte, Piano rechts), sondern mit über sechs Minuten Laufzeit fast zwei Minuten länger und hat zudem ein richtiges Ende mit Ritardando und allem Drum und dran - die mitten im Vocalpart ausgeblendete Single hatte mich in dieser Hinsicht immer gestört. Unterschiede in der Performance sind hörbar, aber nur gering - umwerfend gut ist die Soundqualität dieser Aufnahme.

Fast alle Songs des Albums und beide Single-A-Seiten finden sich als Stereoversionen unter den Bonustracks, Homburg sogar in zwei verschiedenen Stereofassungen, von denen die erste, als "extended" markierte, dann doch deutlich zu lang ist, weil sie zu viele zu wenig variierte Wiederholungen aufweist. Zumal stört hier auch der Drumsound, der fast klingt wie die berühmten Drumcomputer aus den 1980er Jahren. Besser gelungen ist der "1971 Stereo Mix", kürzer und deutlich näher am Original. Am besten gefällt mir jedoch She Wandered Through The Garden Fence mit seinem trocken-humorvollen Text, dessen lakonischer Vortrag mich immer wieder lachen lässt. Kostprobe:
Zitat:
And though I said, 'You don't exist,' she grasped me firmly by the wrist and threw me down upon my back and strapped me to her torture rack. And, without further argument I found my mind was also bent...
Überzeugend und nicht weniger interessant auch die BBC-Session-Tracks am Ende von CD2 - sie beginnen gleich mit einer tollen Version von Tim Hardins Klassiker Morning Dew, dann folgt eine inspirierte Version von A Whiter Shade... - diesmal sogar dank Robin Trower mit hörbarer Gitarre. She Wandered Through... ist schließlich die Überraschung der zweiten BBC-Session, hier deutlich schneller als das Original, aber genauso überzeugend eingespielt.

Zur Aufmachung - die ist nahezu perfekt. Anders als fast alle CD-Releases dieses Albums gibt es hier das Front-Artwork in der unbeschnittenen Fassung - fast überall sonst ist das Blumen-Ornament oder das weiße Kleid am unteren Rand angeschnitten (siehe auch Abb. oben), oft ist das Blattwerk oberhalb des Schriftzugs verändert. Auch hier gibt es wieder ein aufklappbares Poster mit den Songtexten auf der Rückseite. Das Digipack ist mehrfach aufklappbar und enthält Poster und Booklet eingeschoben in einen Schlitz unterhalb zweier Farbfotos der Band in psychedelisch-zeitgemäß bunten Konstümen. Sehr hübsch und sorgfältig gemacht - ein stabiler Schuber drumherum wäre natürlich noch schöner gewesen.

Stabil ist jedenfalls die Verpackung von "Shine On Brightly", dem zweiten Album. Es kommt in einer sog. "Clamshell"-Box (im Grunde eine Pappschachtel mit Pizzakarton-Mechanik), als 3CD-Version. Jede CD darin hat eine eigene Papphülle - CD1 mit dem "normalen" UK-Artwork (s.o.) beinhaltet das Album in der Stereoversion plus drei Bonustracks, CD2 hat die Monoversion als digitale Erstveröffentlichung (die Papphülle zeigt das US-Cover) und CD3, versehen mit einem Alternativmotiv des US-Covers, bietet 17 weitere Bonustracks, darunter als Erstveröffentlichung acht Aufnahmen von verschiedenen BBC-Sessions aus dieser Zeit. Als Beilagen gibt es ein Poster mit dem vergrößerten Albumcover, das auch die Texte enthält, ein paar Kärtchen mit zeitgenössischen Konzertplakatmotiven, sowie ein höchst informatives Booklet mit Anmerkungen zu allen Aufnahmen.

Der Sound ist auch hier klasse, besonders wenn man bedenkt, dass die Aufnahmen aus den Jahren 1967-68 stammen. Die Geschwindigkeits-Probleme, die die letzten Remaster-Ausgaben von Salvo Records offenbar hatten (das Album lief etwas zu schnell, entsprechend etwa einen Viertelton zu hoch, während die Bonustracks OK waren), sind hier behoben. Für mich gab es hier viel zu entdecken - insbesondere die Texte von Keith Reid sind voller Wortwitz und pointierten Einfällen und Gary Brookers Stimme, in etwa zu vergleichen mit der von Steve Winwood, bringt sie gekonnt rüber. Macht Spaß.

Freitag, 3. Juli 2015

TRICKSTER - Find the Lady (1977)

Da ich immer noch meine Patchbay verkabele, läuft außer Vinyl nichts in meinem Studio - nicht mal der Ton vom PC. Also höre ich während der Lötarbeiten weiter eine Platte nach der anderen. Diese hier hab ich sogar zweimal hintereinander gehört, weil ich beim ersten Mal nicht glauben wollte, dass sie mir gefällt:

​​

Diese Band scheint ein ziemlicher Geheimtipp zu sein - nicht mal die englische Wikipedia kennt sie. Ich selbst weiß leider auch nicht mehr genau, wieso ich diese Platte gekauft hatte, nur, dass ein Freund den letzten Song Let it lie ganz toll fand. Der konnte mich jedoch damals nicht besonders reizen; das weiß ich genau - daher bleibt wohl das eins der ungelösten Mysterien meines Lebens...


Aber egal, es gibt -erstaunlicherweise- genug andere gute bzw. bessere Songs auf diesem Album, z.B. If that's the way the feelings take you - das ist sauber produzierter, recht amerikanisch klingender AOR-Pop in der Tradition von Boston, Foreigner oder REO Speedwagon - aber das hier sind offenbar Briten.

Wie gesagt, es gibt nur wenig Infos zu finden. "Find the Lady", 1977 erschienen beim selben Label (Jet) wie E.L.O., scheint das Debutalbum zu sein; zwei Jahre später erschien noch "Back to Zero" (zufällige Parallele zum Boston-Ableger "Return to Zero") und das scheint's schon gewesen zu sein. Angeblich sollen sie häufiger als Vorgruppe unterwegs gewesen zu sein, erst bei E.L.O. (das ist verbürgt) und in den 1980ern angeblich noch bei Simply Red oder Level 42 (so genau wusste der Kollege das nicht mehr - wäre bemerkenswert, denn das wäre deutlich nach ihrem letzten Album gewesen). Die Namen der Musiker sagen mir nichts - Bassist Phil Bates schlug später mal als Bassist von E.L.O.II auf und Gitarrist Michael Groth schrieb das Original des "Feten-Hits" Was macht der Hund auf dem Sofa und wurde später TV-Moderator. Einzig der Produzent - Martin Rushent - ist kein Unbekannter. Er produzierte damals die Stranglers und später Human League, XTC, Generation X und andere New Wave Bands.

Bei meinen Recherchen bin ich schnell auch auf die zeitgenössische Kritik im Musik Express (zwei Sterne) gestoßen; ich meine, die hätte ich damals gelesen. Fehlendes "Feuer und Frische" kann ich dem Album jedoch nicht attestieren. Das ist sicher kein Meilenstein der Rockgeschichte, aber mir macht es ab und zu Spaß, solche Musik zu hören.

Donnerstag, 25. Juni 2015

JON ANDERSON - Olias of Sunhillow (1976)

​​

Gestern abend gehört, aber der Eindruck ist nach all den Jahren derselbe geblieben - Meeting/Sound out the galleon ist gleich zu Beginn leider auch schon das einzige Highlight des Albums, der Rest plätschert so dahin, ohne groß Aufmerksamkeit erregen zu können. Die Kompositionen basieren fast ausschließlich auf Pentatoniken - also so, wie wenn man am Klavier nur die schwarzen Tasten spielt - das klingt ein wenig wie fernöstliche Klangschalen-Meditation. Das Album ist daher - obwohl nicht lang - doch ziemlich langweilig.

Toll ist allerdings das Cover - ein zweifach-Foldout, d.h. statt zwei Taschen wie bei einer Doppel-LP ist hier einfach die linke Tasche aufgetrennt und die Rückseite des Kartons ist ebenfalls bedruckt - so gewinnt man ohne zusätzliches Material zwei weitere Seiten. Zusätzlich sind auf der Innenhülle alle Texte. Schade fast, dass die Musik nicht ganz mithalten kann.

Mittwoch, 24. Juni 2015

REAL LIFE - Flame (1985)

So kann die Erinnerung täuschen - höre derzeit wieder viel Vinyl, weil ich dabei bin, mein Studio umzubauen und neu zu verkabeln und bis jetzt nur der Plattenspieler wieder angeschlossen ist. Dieses Album hatte ich als supergut in Erinnerung, es aber schon seit fast 30 Jahren nicht mehr gehört:



Das ist das zweite Album, "Flame" (1985) von Real Life, einer Aussie-Band, die zwei Jahre vorher einen ordentlichen Hit mit Send me an angel hatte. Auch wenn der Zweitling längst nicht an das von Steve Hillage produzierte Debutalbum "Heartland" herankam, hatte ich es dennoch deutlich besser in Erinnerung, aber leider strotzt das Album nur so vor Eighties-Soundklischees, angefangen von allerlei DX7-Geklimper über Bombast-Hall auf den Drums bis zu nervigem New-Romantic-Geschluchze des Sängers.

Die Zeit so einigermaßen überstanden hat bestenfalls der Titelsong (der war auch damals mein Favorit) sowie gerade noch The Longest Day mit seiner von U2 geklauten Gitarre. Der Rest ist Schrott.

Dienstag, 23. Juni 2015

GREG KIHN - Greg Kihn/Greg Kihn Again/Next of Kihn/With The Naked Eye (1976-79)


Wiederentdeckt habe ich neulich einige Alben aus meiner durchaus umfangreichen Vinyl-Sammlung*, weil selbige umziehen musste (raus aus meinem Studio in den "Geräteraum" desselben). Darunter auch diese hier, die ich wirklich Jahrzehnte nicht gehört hatte:

Das sind die ersten vier Alben des US-amerikanischen Musikers Greg Kihn aus den Jahren 1976-79. Allerdings hatte ich nur das dritte Album "Next of Kihn" tatsächlich zum Zeitpunkt des Erscheinens gekauft, die anderen drei als Re-Releases des deutschen Labels Line Records auf immerhin schickem weißem Vinyl ca. 10 Jahre später.

Kihn war einer der ersten Musiker, die auf dem US-Indie-Label "Beserkley" veröffentlichten - das war so etwas wie die amerkanische New Wave - und mir war damals seine Version von Bruce Springsteens For You (aus seinem zweiten Album "Greg Kihn Again", das war einige Jahre vor Manfred Manns Version) aufgefallen.





Beim erneuten Hören fiel mir auch wieder ein, wieso mir sein Sound so gefiel: natürlich ist es vor allem die 12-string Rickenbacker, die vorzugsweise die ruhigeren Stücke wie das geniale Everybody Else ("Next of Kihn") mit ihrem typischen Jingle-Jangle bereichert. So finden sich auf allen vier Alben herausragende Kompositionen, allerdings ist "Next of Kihn" das geschlossenste, durchweg sehr gute Signature-Album, das ich immer noch empfehlen kann.

Als CDs waren alle vier Alben (und einige weitere) wohl nur kurz erhältlich und diese kosten jetzt Unsummen - alle Sampler haben jedoch den Nachteil, dass ihnen Everybody Else fehlt und das nicht minder großartige Secret Meetings (ebenfalls von "Next of Kihn") gibt es bestenfalls als Live-Version - auf der iTunes-Version des Albums fehlt es übrigens gänzlich. Aber da ich gestern abend meinen alten Plattenspieler repariert habe, steht dem "Genuss" ja wenigstens analog nichts mehr im Wege... Scherz beiseite, da ist mir iTunes ja noch lieber...😉

Montag, 15. Juni 2015

SERIE: Unbekannte Originale bekannter Hits 14 - "Popcorn"

deutsches Single-Cover
Dieses kleine Stück elektronischer Popmusik kennt wohl so ziemlich jeder und obwohl es massiv gecovert wurde, ist die Version von "Hot Butter", einer Instrumental-Coverband, die den damals noch relativ neuen Moog-Synthesizer in den Sound-Vordergrund stellte, diejenige, die man sofort im Ohr hat. Das liegt wahrscheinlich daran, dass diese Version 1972 ein weltweiter Hit war (#1 in Deutschland, Frankreich, Norwegen, Schweiz und Australien, #5 UK, #9 USA).
Hier eine besonders bescheuerte zeitgenössische TV-Präsentation:
https://www.youtube.com/watch?v=YfdLh0MHqKw

Interessant ist auch, dass die Covers sowohl der deutschen als auch der französischen Single-Pressung auf die angeblich enthaltene Originalversion verweisen - was wahrscheinlich darin begründet lag, dass diverse Trittbrettfahrer-Labels den Song, sobald er ein Riesenhit geworden war, gleich dutzendfach von namenlosen Studiomusikern neu einspielen und verkaufen ließen. Daher meinte man, die populäre Version von "Hot Butter speziell kennzeichnen zu müssen.

franz. Single-Cover
Das wahre, heute ziemlich unbekannte Original ist drei Jahre älter und stammt aus der Feder des deutsch-amerikanischen Komponisten und Elektronik-Pioniers Gershon Kingsley (geboren 1922 als Götz Gustav Ksinski in Bochum; er und seine Familie mussten 1938 aus Nazi-Deutschland fliehen), der es 1969 auf seinem Album "Music to moog by" und auch als Single-Auskopplung veröffentlichte.

US-Albumcover
Obwohl auch das Original den Moog-Synthesizer einsetzte, klang das Stück bei Kingsley doch ziemlich anders:
https://www.youtube.com/watch?v=OSRCemf2JHc

Kingsley selbst hatte dann -übrigens noch vor "Hot Butter"- eine weitere Version mit seiner Band "First Moog Quartet" aufgenommen - die schon ziemlich nah an der späteren Hitversion war: https://www.youtube.com/watch?v=ivEVhCDdiTY (hier kann man das ganze Album hören; es beginnt -natürlich- mit Popcorn).

US-Albumcover
Zu den Musikern dieser Band, die übrigens 1970 die ersten waren, die in der ehrwürdigen New Yorker Carnegie Hall elektronische Musik spielen durften, gehörte auch ein Keyboarder namens Stan Free, der später dann "Hot Butter" gründete.

2005 kam der Song in einer recht geschmacklosen Fassung von "Crazy Frog", einer Marke des Klingelton-Anbieters "Jamba!" erneut in die Charts. Aber das vergessen wir lieber gleich wieder...
Eine ziemlich umfassende Übersicht über die zahlreichen Coverversionen dieses kleinen Stücks findet sich auf dieser Seite: http://www.popcorn-song.com/
Die meisten der dort gelisteten Versionen lassen sich direkt anhören.


Randbemerkung: ich wurde darauf aufmerksam gemacht, dass das Hauptthema von Jean-Michel Jarres Hit Oxygene IV (1977) aus derselben Tonfolge besteht wie das Hauptthema von Popcorn. Wäre mir selbst wohl nicht ohne Weiteres aufgefallen, da die Metren beider Stücke und damit die Betonung der Melodien völlig verschieden sind, aber es stimmt.

Donnerstag, 21. Mai 2015

SERIE: Unbekannte Originale bekannter Hits 13 - "You'll never walk alone"

You'll never walk alone wird an jedem Spieltag in fast allen Stadien der Welt vom jeweils vorhandenen Mob gecovert - ohne dass seine Komponisten auch nur einen Cent daran verdienen - und vermutlich ohne dass dem Mob die Hintergründe bekannt wären...

Tatsächlich war der Song 1963 ein #1-Hit in UK von einer Liverpooler "Merseybeat"-Band... nein, nicht die Liverpooler Band, sondern von Gerry & The Pacemakers - das waren nicht nur Zeitgenossen der Beatles, sie hatten auch mit George Martin denselben Produzenten.
Ein Blick auf das Label verrät jedoch bereits die eigentliche Urheberschaft:



"Carousel" war ein Musical, das 1945 am Broadway uraufgeführt wurde und in den Folgejahren im Englisch-sprachigen Raum recht erfolgreich war. Richard Rodgers war der Komponist, Oscar Hammerstein II der Textdichter - ein bewährtes Team, auf dessen Konto viele Musicals und Soundtracks in den 1940ern und 50ern gingen ("Cinderella", "The Sound of Music", "Oklahoma" etc.). Hier der fragliche Ausschnitt aus der späteren "Carousel"-Verfilmung von 1956.

Inhaltlich geht es in dem für heutige Begriffe eher kruden Musical um ein Paar aus der Arbeiterschicht - sie ist schwanger, er versucht sich als Gangster und stirbt auf der Flucht nach einem Überfall, indem er versehentlich in sein eigenes Messer fällt. Da kommt der Song als Ermutigung für die alsbald alleinerziehende Mutter wie gerufen. Dass ihr Ex-Mann 15 Jahre später einen Tag Hafturlaub vom Himmels-Knast bekommt und den dazu nutzt, seiner fassungslosen Tochter einen natürlich geklauten Stern zu schenken, den sie aber gar nicht haben will und er ihr dafür eine klebt - geschenkt. Am Ende haben sie alle -zusammen mit dem Papa-Geist- nochmal You'll never walk alone gesungen und alles war wieder gut. Das waren noch Plots damals!

Die erste Aufnahme gelang wohl Frank Sinatra, der ja auch alles gecovert hat, was nicht bei drei auf den Bäumen war - gerade mal zwei Wochen nach der Uraufführung des Musicals. Die Schellackplatte schaffte noch im selben Jahr die #6 in den US-Charts. Da es wohl die erste Veröffentlichung auf einem Tonträger war, könnte man diese Version also durchaus auch als Original betrachten.

Wie aber kam der Song in die Fußballstadien? - Dazu hat Gerry Marsden, Sänger und Namensgeber von Gerry & The Pacemakers einmal erzählt, dass damals im Stadion an der Anfield Road vor Spielbeginn immer die aktuellen Charts in umgekehrter Reihenfolge gespielt wurden. Als You'll never walk alone nun 1963 die #1 war, wurde diese Single also zuletzt gespielt. Die Fans fanden die Version der Lokalmatadoren offenbar jedoch so toll, dass sie den Song einfach weiter sangen, auch als das Spiel schon längst begonnen hatte. Und auch noch sangen, nachdem die Single längst wieder aus den Charts verschwunden war. Später übernahmen dann die Ultras von anderen Mannschaften den Song und irgendwann gab es ihn überall, wo gerade Support angesagt war. Frankieboy z.B. ließ es sich nicht nehmen, ihn zur Inauguration von George Bush senior 1989 anzustimmen.

Die englische Wikipedia listet derzeit rund 100 Coverversionen von Elvis bis Pink Floyd (als Stadiongesang-Einspielung im Song Fearless, sauber creditiert) - die Dunkelziffer dürfte jedoch weit höher liegen!

Dienstag, 19. Mai 2015

SERIE: Unbekannte Originale bekannter Hits 12 - "Seasons in the sun"

Der Kanadische Singer/Songwriter Terry Jacks landete 1974 mit Seasons in the sun einen internationalen #1-Hit. Der Song wurde in späteren Jahren mehrfach gecovert, u.a. von Nirvana und der irischen Boygroup Westlife.


Single-Cover dt. Pressung
Seasons in the sun stammte jedoch nur zu einem kleinen Teil aus Jacks Feder. Komponiert und getextet wurde es von keinem geringeren als dem berühmten belgischen Chansonnier Jacques Brel, der den Song mit dem Originaltitel Le Moribond bereits 1961 schrieb und auf seinem Album "5" veröffentlichte. Die Übersetzung ins Englische besorgte kurz darauf der US-Dichter und Singer/Songwriter Rod McKuen, der im Laufe seiner Karriere eine ganze Reihe von Brel-Chansons übersetzte. Seine Version wurde 1963 zuerst von The Kingston Trio und dann 1968 von der britischen Band The Fortunes aufgenommen; das waren aber nur kleinere Hits.

McKuens Übersetzung hatte sich gegenüber dem Original bereits einige Freiheiten gegönnt. Das war eher sarkastisch-ironisch gehalten und Brel forderte die Zuhörer auf, zu singen und zu tanzen, bevor man ihn ins Loch warf (der YouTube-Link oben enthält englische Untertitel - für alle die kein Französisch können). McKuen ersetzte den Priester durch den Papa und war ansonsten fürs Sentimentale zuständig, das dem Brel-Original völlig abging. Jacks strich noch sämtliche Passagen mit dem Liebhaber der Frau des sterbenden Protagonisten und führte dafür eine Tochter namens Michelle ein, was den Text dann endgültig weichspülte. Einen direkten Vergleich der Änderungen zwischen McKuen und Jacks' Versionen kann man der englischen Wikipedia entnehmen.

Übrigens war auch die nachfolgende Terry Jacks-Single If you go away ein Song von Jacques Brel (Ne Me Quitte Pas) in der Übersetzung von Rod McKuen. Sie wurde nur ein kleiner Hit für Jacks (#8 UK, #68 US), zugleich sein letzter Charterfolg, von einigen Platzierungen in seinem Heimatland abgesehen.

Freitag, 15. Mai 2015

SERIE: Unbekannte Originale bekannter Hits 11 - "Red red wine"

Red red wine war 1983 ein Superhit der britischen Reggae-Band UB40, #1 in UK und US (1988), sowie Irland, Holland und Neuseeland. Aber nicht mal die Band wusste anfangs, wer der Urheber des Originals war.



Laut Wikipedia kannten sie nur die Reggae-Version von Tony Tribe aus dem Jahr 1969, was ja naheliegend war. Auf dem Tribe-Label stand als Credit nur "Diamond" und sie wären wohl von allein nicht auf die Idee gekommen, dass es sich dabei um keinen geringeren als Neil Diamond handeln könnte.



Aber so war es, Neil Diamond veröffentlichte den Song bereits 1967 auf seinem zweiten Album "Just for you". Als er kurz darauf sein damaliges Label "Bang Records" verließ, mischte die Plattenfirma, ohne ihn zu fragen, einen Background-Chor dazu und veröffentlichte den Song als Single. Sie erreichte 1968 immerhin #62 in den Billboard-Charts.



Neil Diamond fand die UB40-Version im übrigen so gelungen, dass er den Song bei seiner letzten Tour in einem recht ähnlichen Reggae-Arrangement spielte, komplett mit Rap im Mittelteil, wenn auch mit anderem Text als bei UB40: Neil Diamond live in Philadelphia, 15.3.2015

Red red wine war jedoch nur der zweitgrößte Hit von UB40 - mit ihrem größten hatten sie nur zwei Jahre später dann auch die US-Charts geknackt: Dass I got you babe (featuring Chrissie Hynde) natürlich auch "nur" ein Cover war, ist jedoch ungleich mehr bekannt, denn das Original von Sonny & Cher war 1965 ein Welthit (#1 in u.a. US und UK, #3 in Deutschland), sei daher hier nur am Rande erwähnt.

Mittwoch, 13. Mai 2015

SERIE: Unbekannte Originale bekannter Hits 9+10 - "Many of horror" & "Run"

Zwei Songs neueren Datums mit einem ähnlichen Schicksal:

Casting-Shows in aller Welt spülen ja nicht nur unzählige Sternchen für kurze Zeit ins Rampenlicht, sondern oft werden auch die Hits, die sie in den Shows covern, als Zweitverwertung zu respektablen Charterfolgen. Die meist blassen Cover-Versionen werden dann gern zu größeren Hits als es die Originale je waren, insbesondere, wenn diese aus dem Alternative-Sektor stammen.

2010 gewann ein Matt Cardle die UK-Show "X-Factor" mit dem Song When we collide - und wurde damit gleich die #1 in UK und Irland. Es war jedoch nur eine matte Coverversion einer richtig guten Rock-Ballade.



Der Originaltitel Many of horror der schottischen Band Biffy Clyro war nur ein paar Monate älter, hatte es aber in den Charts bis dahin nicht allzu weit bringen können, obwohl die Band in UK schon länger Kultstatus genießen konnte. Nach dem Sieg von Cardle passierte jedoch etwas bis dahin Einmaliges: die große Fangemeinde der Band startete eine Internet-Kampagne, um die potentiellen, aber ahnungslosen Käufer der Single zu bewegen, das nicht nur ihrer Meinung nach viel bessere Original statt des billigen Covers zu kaufen!
Das klappte allerdings nur teilweise - zwar schaffte es Many of horror im Anschluss tatsächlich bis auf #8 der UK-Charts, was die höchste Platzierung dieser Single bedeutete, Cardles Coverversion hielt jedoch die #1 in der Weihnachtswoche (das ist die mit den höchsten Verkaufszahlen) und belegte damit Platz 2 der Single-Verkaufscharts für 2010.

Nicht viel anders erging es der irisch-schottischen Band Snow Patrol mit ihrem ähnlich balladesk angelegten Song Run. Veröffentlicht im Januar 2004 war es die zweite Single ihres Albums "Final Straw", mit dem sie damals ihren Durchbruch feiern konnten. Run schaffte immerhin die #5 in UK und tauchte in den Folgejahren immer wieder kurz in den Charts auf, so 2007, 2008 und 2010, nachdem es die Band mit einigen weiteren Hits langsam in den Mainstream geschafft hatte, ein großer Hit war es jedoch nicht.



2008 konnte es wenigstens ein bisschen vom Erfolg der unsäglichen Coverversion von Leona Lewis profitieren, ebenfalls ein "X-Factor"-Sternchen, die diese Show allerdings schon 2006 gewinnen konnte, was sie nicht daran hinderte, Run in der aktuellen "X-Factor"-Staffel zu präsentieren. Die Single wurde so mit Leichtigkeit #1 in UK, Irland und Österreich, #2 in der Schweiz und immerhin #3 in Deutschland, wo das Original kaum jemand kennen dürfte, der nicht gerade ein Fan von Snow Patrol ist.

Mir ging es anders herum - Snow Patrol hatte ich mit diesem Song zuerst beim Live Earth-Konzert in Wembley 2007 gehört - das Cover kannte ich jedoch nicht, bis ich es vor drei Jahren auf einer Beerdigung eines Freundes hören musste. Aber ich finde es auch so gruselig genug. Schrecklich, was man aus einem wirklich tollen Rock-Song machen kann.

Montag, 11. Mai 2015

SERIE: Unbekannte Originale bekannter Hits 7+8 - "I think we're alone now" & "Mony mony"


1987 gab es einen interessanten Zufall in den US-Charts: I think we're alone now erschien im August in der Version der damals 15jährigen US-Sängerin Tiffany. Es war ihre zweite Single und wurde gleich ein Welthit - #1 in US, UK, Irland, Neuseeland, Kanada und Südafrika. Obwohl ihr Debutalbum noch weitere durchaus erfolgreiche Singles abwarf, entpuppte sich Tiffany jedoch im Rückblick als One-Hit-Wonder. Schon ihr zweites Album war ein ziemlicher Flop. Lediglich mit ihren Playboy-Fotos 2002 konnte sie wieder einen Hit landen...



Nach nur einer Woche auf der Spitzenposition der Billboard-Charts wurde die Single jedoch schon abgelöst von Mony Mony in der Live-Version von Billy Idol. Der ehemalige Leadsänger der britischen Punkband "Generation X" hatte nach dem Split eine erfolgreiche Solokarriere gestartet. Mony mony hatte er bereits 1981, noch vor seinem Solodebut, auf einer E.P. mit dem Titel "Don't stop" veröffentlicht. Zum Hit wurde es allerdings erst in der Live-Version, aufgenommen 1985, erschienen im Oktober 1987 parallel zur US-Ausgabe seines Sampler "Vital Idol" - auf dem Höhepunkt seiner Karriere.



Was haben nun beide Songs gemeinsam? - Richtig: die Originale sind zwei Single-Hits aus den Jahren 1967 und 1968 einer US-Band namens Tommy James & The Shondells. Auch die Reihenfolge stimmt, jedoch gab es noch ein paar weniger erfolgreiche Singles dazwischen. I think we're alone now war immerhin eine #4 in US - geschrieben vom Producer der Band, Ritchie Cordell, später auch u.a. bekannt als Produzent von Joan Jetts Single I love rock'n'roll und den Ramones. Mony mony, geschrieben von Cordell, Tommy James, Bo Gentry und Bobby Bloom eroberte sogar den #1-Spot in den UK-Charts (#3 in US).

TJ&S 1967

Dass diese beiden Singles mit den Jahren dennoch etwas in Vergessenheit gerieten, war vermutlich dem Umstand geschuldet, dass die Band bis heute vor allem mit ihren beiden größten Hits Hanky panky (1966) und Crimson & Clover (1968) assoziiert wird. Vor allem letztere Single war eine deutliche Abkehr vom simplen Bubblegum-Pop und eine Hinwendung zum anspruchsvolleren Psychedelic-Rock, heute noch berühmt durch den Tremolo-Effekt auf Tommy James' Vocals - mithin ein Klassiker der Rock-Geschichte.

SERIE: Unbekannte Originale bekannter Hits 6 - "Without you"

Hier haben wir den Archetyp einer Schmacht-Rock-Ballade: Without you war 1971 ein Welthit von Harry Nilsson, oder kurz: Nilsson, einem US-Singer/Songwriter, der Song wurde spielend #1 in USA, UK, Irland, Neuseeland, Australien und Kanada (Deutschland nur #12) und brachte seinem Interpreten den zweiten Grammy ein. Damit hatte Nilsson ausgesorgt - gut bekommen hatte ihm der Ruhm wohl dennoch nicht - nur wenige Jahre später machte er als Saufkumpel von John Lennon während dessen Yoko-Ono-Auszeit die Bars von L.A. unsicher. Legendär ist ihr Rauswurf aus dem "Troubadour"-Club in Hollywood, der 1973 als Pressemeldung um die ganze Welt ging.

Dass die überaus populäre Nilsson-Version zumindest in Deutschland gern für das Original gehalten wird, mag auch daran liegen, dass die deutsche RCA den irreführenden Zusatz "Originalversion" auf das Single-Cover drucken ließ (s.o.). Without you wurde laut Wikipedia über 180 Mal gecovert, 23 Jahre nach Nilsson auch von Mariah Carey - deren Version sich stark an die Nilsson-Version anlehnte. Gesanglich hat sie das Stück natürlich wieder mit ihrem völlig übertriebenen "Lining-out"-Gsangsstil zugeträllert, was es für meine Ohren nur schwer erträglich macht. War aber immerhin (u.a.) #1 in UK und Deutschland.

Das Original ist von der englisch-walisischen Band Badfinger und ist nur ein Jahr älter als die Nilsson-Version. Nilsson hatte den Song der Legende nach zuerst auf einer Party gehört und ihn für eine Beatles-Aufnahme gehalten. Als ihm sein Irrtum bewusst wurde, beschloß er sofort, ihn für sein kommendes Album "Nilsson Schmilsson" zu covern. Wahrscheinlich die beste Idee seines Lebens.

Badfinger war eine der ersten Bands, die einen Vertrag mit dem Beatles-eigenen "Apple-Records"-Label hatten und da zwischen 1969 und 1973 fünf Alben veröffentlichten (das erste noch unter ihrem früheren Bandnamen "The Ivys"). Der Beatles-Clan war anfangs maßgeblich an ihren Aufnahmen beteiligt. So schrieb und produzierte Paul McCartney ihren ersten großen Hit Come and get it, George Harrisons Gitarre und seine Produktionskünste waren bei einigen Songs des vierten Albums "Straight up", speziell beim Top-Ten-Hit Day after day, unüberhörbar. Beatles-Engineer Geoff Emerick und -Road Manager Mal Evans teilten sich den Produzentenstuhl mit anderen namhaften Producern wie Tony Visconti, Chris Thomas und Todd Rundgren. Nicky Hopkins, Klaus Voormann, Jim Keltner, Leon Russell und andere Größen waren als Gastmusiker in den Credits vertreten, fast schon ein Who-is-who der Rock-Geschichte - trotz der jederzeit hörbaren Beatles-Einflüsse hatten die Alben jedoch kaum nennenswerten Erfolg, was damals dem nicht gerade professionellen Marketing von Apple angelastet wurde.

Without you stammt von ihrem dritten Album "No Dice" und beim Hören kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Song von vornherein nur als Album-Track gedacht war. Das Arrangement erscheint ohne das Orchester zunächst etwas roh und dürftig; es hat jedoch seine eigenen Qualitäten, ist es doch auch frei vom Schmalz und Kitsch der Hit-Versionen, was mir grundsätzlich sympathisch ist. Erst gegen Ende des Songs wird es durch die Orgel etwas hymnischer, aber der Gesang klang nirgendwo authentischer, verzweifelter:



Das so überzeugend geschmetterte "Can't live" aus dem Refrain sollte später für Badfinger eine tragische Bedeutung bekommen, nahmen sich doch beide Autoren des Songs das Leben - zuerst Sänger und Gitarrist Pete Ham 1975, acht Jahre später dann auch Bassist Tom Evans, beide durch Erhängen. Ham bezeichnete in seinem Abschiedbrief ausdrücklich ihren damaligen Manager Stan Polley als "seelenlosen Bastard". Bereits 1972 hatte dieser einen erheblichen Vorschuss von Warner Brothers kassiert, für dessen Rückzahlung Warner die Band verklagt hatte. Das Geld war jedoch nicht mehr auffindbar und Ham und seine Kollegen damit finanziell ruiniert. 1991 wurde Polley schließlich in einem ähnlich gelagerten Fall zu fünf Jahren auf Bewährung verurteilt.

Apple Records hat übrigens 2010 alle ihre Badfinger-Alben im Apple-typischen Design neu aufgelegt und zum Reinschnuppern vorzüglich geeignet ist die Compilation "Timeless - The Musical Legacy of Badfinger" mit allen Hits und ausgesuchten Albumtracks (inkl. Without you) von 1969 bis 1979 - derzeit für € 4,99 nicht nur für Beatles-Fans ein echtes Schnäppchen.

Donnerstag, 7. Mai 2015

SERIE: Unbekannte Originale bekannter Hits 5 - "There she goes"


Eine US-Sakropop-Band mit dem seltsamen Namen "Sixpence None The Richer" hatte mit diesem Song 1999 einen kleinen Hit (#14 UK, #32 US). Er war der letzte Track sich auf ihrem selbst-betitelten dritten Album von 1997, das eine etwas seltsame Covergestaltung besaß: Zwar kam die CD in einem ganz normalen Jewel-Case, das Design war jedoch so angelegt, dass das Booklet die Rückseite und dafür der feste Einleger, auf dem üblicherweise Titelliste und Barcode stehen, das Front-Artwork trug. Man musste das Jewel-Case also umgedreht halten, wobei es sich jedoch nicht auf die übliche Weise öffnen ließ - ob dieser Umstand den Verkäufen im Weg stand, darf nur vermutet werden; das Album verkaufte sich jedenfalls nur mäßig und das Cover wurde für den internationalen Markt geändert. Nachdem die erste Singleauskopplung Kiss me immerhin einen ordentlichen Anschub durch eine Episode von "Dawson's Creek" erfuhr (#2 US, #4 UK, #7 Deutschland), brachte man There she goes schließlich in der HBO-Serie "Six Feet Under" unter, strategisch gut plaziert als akustische Untermalung eines Suizids, leider vier Jahre zu spät.


Robbie Williams spielte den Song ebenfalls gern und veröffentlichte ihn in einer Live-Version für die B-Seite seiner Single No regrets (1998). Die Originalversion ist jedoch gut 10 Jahre älter:

There she goes wurde geschrieben von Lee Mavers, dem Sänger und Gitarristen der britischen Band The La's - und gleich zweimal veröffentlicht, 1988 und als Steve Lillywhite-Remix für das Album 1990. Beide Male leider relativ gefloppt:


Obwohl die Band mehrere Jahre zusammen spielte, haben sie es nur auf ein einziges, allerdings hervorragendes Studioalbum gebracht ("The La's"). Ich hatte vor ein paar Jahren einige Mühe, es zu erwerben. Inzwischen gibt es das Remaster für 5 Euro...