Donnerstag, 26. Februar 2015

STEVEN WILSON - Hand. Cannot. Erase. (2015)

Das ist es nun also: das neue Album von Steven Wilson. "Hand. Cannot. Erase." heißt es und man darf über den Titel und seine eigentümliche Schreibweise rätseln. Waren diese unmotiviert gesetzten Punkte nicht vor ein paar Jahren in jeder zweiten Werbekampagne für alle möglichen Produkte Standard? Und waren sie nicht längst schon wieder aus der Mode? Hat nicht sogar die F.D.P. ihre Punkte inzwischen abgeschafft?

Nun ist Steven Wilson nicht dafür bekannt, sich an gängigen Trends zu orientieren - er setzt lieber selbst welche. Sein neues Album war lange angekündigt und schon vor Monaten clever angeteased mit mehreren längeren Videoclips, die Steven mit seinen Kollegen zusammen im Studio zeigen, dazwischen eingestreute Interviews und immer wieder Musikschnipsel, die beim Anhören des fertigen Albums jetzt den ein oder anderen Wiedererkennungseffekt bewirken.

Dabei ist "H.C.E." ein signifikant anders klingendes Album als sein vielgelobter Vorgänger "The Raven That Refused To Sing", das ziemlich genau vor zwei Jahren veröffentlicht wurde. Steven Wilson scheint geschickt die Erwartungshaltungen seiner Fans unterlaufen zu wollen, aber -soviel sei schon verraten- wirkliches Neuland wird hier nicht betreten - was nichts Schlimmes ist. Feststellen lässt sich jedoch eine weitgehende Abkehr vom Jazzrock, dafür konnte das Progressive-Lager wieder deutliche Bodengewinne verzeichnen - was für die meisten seiner Fans sicher kein schlechter Zug ist, schließlich hat er den Großteil seiner treuen Gefolgschaft bereits zu Porcupine Tree-Zeiten rekrutieren können. Den größen Einfluss auf die Tatsache, dass dies hier dennoch kein neues Porcupine Tree-, sondern ein echtes Steven Wilson-Album geworden ist, hat sicher nicht Wilson selbst, sondern eher seine inzwischen sehr eingespielt klingende Stammbesetzung. Alle Musiker der "Raven"-Besetzung sind auch hier wieder dabei, neu dabei ist die israelische Sängerin, Schauspielerin und Moderatorin Ninet Tayeb, deren warme Altstimme auf mehreren Tracks zu genießen ist. Für Saxofonist/Flötist Theo Travis gab es diesmal nur wenig zu tun, lediglich auf einem Longtrack (Ancestral) ist er zu hören. Um es kurz zu machen: es hat dem Album nicht geschadet.

Track-by-track:
Es beginnt mit einem kurzen Atmo-Stück mit dem Titel First Regret - zu bedauern gibt es hier aber nichts. Teile der Atmo werden rückwärts abgespielt, und das Piano leidet hörbar unter Gleichlaufschwankungen; das klingt alles etwas surreal. Pink Floyd lässt grüßen.

Nahtlos gelingt der Übergang zu 3 Years Older, das mit den berühmten Mellotron-Strings beginnt - hier bekommen wir gleich den ersten Höhepunkt des Albums, ein 10:18 min langes Stück, bei dem eine Idee die nächste jagt, manchmal kaum verbunden, fast wie zufällig aneinandergeklebt. Trotzdem zerfällt es nicht in Beliebigkeit. Zusammengehalten von Wilsons klaren, anfangs sehr verhaltenen, später kräftigeren Vocals und einer genialen Hookline-Melodie: "I can feel you more than you really know - I will love you more than I'll ever show" - spätestens hier gibt es die ersten Gänsehäute. Gut, das Schweineorgelsolo bei 7:28 min wäre entbehrlich gewesen, aber das kann den guten Eindruck nicht trüben. 3 Years Older allein ist schon das Geld für das ganze Album wert.

Danach folgt mit Hand. Cannot. Erase. der schon vorab veröffentlichte Titelsong - hier in der etwas längeren Version, die eine zusätzliche, ruhig gehaltene Instrumentalpassage enthält, die in Sound und Stimmung kurz an das "Raven"-Album erinnert. Dieser Song ist ein für Wilson-Verhältnisse geradezu klassischer Pop-Rock-Song, geradeaus, traditioneller Aufbau, nur einige krumme Takte und starke Breaks verraten die gelungene Synthese aus Prog und Pop. Toller Refrain, stark gesungen, eine herausragende Single. Wäre in alten Zeiten sicher ein Hit geworden.

Ebenfalls vorab veröffentlicht wurde auch das Video zu Perfect Life, Wilsons Ausflug in den Trip-Hop. Katherine Jenkins liefert einen traurigen gesprochenen Text zu einem Massive-Attack-artigen Computerbeat. Als die Geschichte der beiden Mädchen aus dem Videoclip endet, löst Steven sie ab mit einer fast endlos wiederholten Zeile: "We've got, we've got a perfect life" - ebenso perfekt ist sein Harmoniegesang.

Mit Routine folgt der nächste Longtrack, beginnt mit sparsamen Klavierakkorden und leisem Gesang, kurz ist eine Meeratmo zu hören, danach baut sich der Song auf. Bei 2:43 hört man einen Knaben im ultrahohen Sopran, dann gibt es einen Fullstop. Mit 12-string-Fingerpicking baut sich langsam der zweite Teil auf. Der Bass greift zunächst die Gesangsmelodie zu einem kurzen Solo auf, dann hat Guthrie Gowan ein schönes Solo zu spielen, bevor Ninet Tayeb dann endlich singen darf. Und das macht sie großartig. Nach einem kurzen Vollgasteil kommt es dann zum Duett zwischen Ninet und Steven, mit dem dieser tolle Song wunderschön endet.

Mit Home Invasion geht es dann ordentlich ab. Die erste instrumentale Hälfte des Songs ist für die Headbangfreunde gedacht, ab ca. 3:00 geht es dann mit verzerrtem Gesang eher Richtung "erdiger Blues", nur unterbrochen von kleinen Schönklang-Traumsequenzen mit Mollakkorden und Harfenarpeggios.

Regret #9 schließt sich nahtlos an. Das klasse Minimoog-Solo könnte problemlos von Manfred Mann stammen, dann greift Gowan erneut ein. Hier darf er kurz mal übertreiben, das ist schon OK. Das Instrumental endet in Spielplatzatmo mit sparsamen Pianoakkorden und Banjogeklimper.

Transience ist ein eher klassischer, ruhiger Song mit Picking-Gitarren, der völlig ohne Drums und Bass auskommt. Nur ein Bass-Synthesizer darf ab und zu einen Tiefton einstreuen.

Vor dem nächsten Stück, dem 13:34 min langen Ancestral darf der Hörer ein paar Sekunden die Stille genießen. Einmal Luft holen, dann geht's los. Es beginnt wie ein normaler Song, nach gut drei Minuten wird es hymnisch, Wilson wirft hier alles auf einmal in die Waagschale, der Sound wird laut und mächtig, Gowan und Minnemann dürfen alles geben. Bei 5:03 kommt die vorhersehbare Zäsur, Ninet Tayeb beginnt mit tiefer Stimme den dritten Teil, so geht es eine Zeitlang weiter, zum Schluss wird der Song schneller und düsterer, seltsame Geräusche flirren von rechts nach links. Metal-Gitarren springen in die geschlagenen Breschen und geben dem Stück den Rest. Das klingt jedoch an keiner Stelle nervig oder abstoßend, sondern ist ein stets auf den Höhepunkt zusteuerndes Spiel mit den Erwartungen der Hörer. Großartig konzipiert und eingespielt. Trotzdem atmet man am Ende unwillkürlich etwas auf.

Netterweise wird gleich das Kontrastprogramm geliefert: Happy Returns ist anfangs wieder ein Leichtgewicht. Zu Piano und Akustikgitarren gibt es hier die beste Textzeile des Albums "Hey brother, I'd love to tell you I've been busy, but that would be a lie. 'Cause the truth is, the years just passed like trains - I wave but they don't slow down." - leider folgt gleich darauf die schlechteste: "Toodoodoodoo-dedeladaum-laum-ladadadaum-toodoodoo-dedlalaum". - Hand. Würde. Gern. Erasen! - Wilson schafft es jedoch nicht, diesen feinen Song damit zu verderben und wahrscheinlich hat er die kommenden Live-Shows im Sinn gehabt - die Sinnlos-Lallerei wird er wohl nutzen, das Publikum zum hymnischen Mitsingen zu animieren. Na, wenn das nicht mal zu kompliziert ist...

Ascendant Here On... ist dann sozusagen das natürliche Ausgeklimpere eines großartigen Albums. Wieder Spielplatzatmo, diesmal im Regen. Mütter, holt die Kinder rein! Toodoodoodoo-dedeladaum-laum!

Das Konzept des Albums wurde inspiriert vom tragischen Ende Joyce Carol Vincents, deren Tod in ihrer Wohnung mitten in London über zwei Jahre lang unbemerkt blieb. Als der Gerichtsvollzieher ihre skelettierte Leiche fand, liefen noch Fernseher und die Heizung. Als sie starb, war sie 38 Jahre alt; sie hatte Freunde und Verwandte, trotzdem hatte sie offenbar niemand vermisst. Wilson hatte den Dokumentarfilm "Dreams of a Life" gesehen, in dem versucht wird, ihr Leben zu rekonstruieren. Seine Geschichte weicht jedoch in vielen Details von dem realen Hintergrund ab. Die Einsamkeit seiner Protagonistin ist selbst gewählt, sie verbringt ihre Freizeit mit Fernsehen und Malen, nimmt für einige Zeit eine Katze in ihrer Wohnung auf, beteiligt sich vorübergehend auch in sozialen Medien und schreibt eine Art Blog, in dem sie ihr Leben reflektiert. Dieser fiktive Blog ist tatsächlich im Internet zu finden. Wilson hat sich dafür die URL handcannoterase.com reservieren lassen; die von ihm selbst verfassten Artikel finden sich aber auch in der großformatigen Deluxe-Edition des Albums, die einfach umwerfend aufwändig ausgestattet ist. Zwischen den hervorragenden Fotos von Lasse Hoile gibt es verschiedene faksimilierte Dokumente als Beilagen, darunter eine Geburtsurkunde, Zeitungsausschnitte, ein Mixtape-Inlay und handgeschriebene Hefte mit Zeichnungen und seltsamen Geschichten.
In ihrem Blog schildert die Frau merkwürdige Beobachtungen sowohl an Fremden, die sie aus ihrem Fenster beobachtet, als auch an sich selbst. So verlässt sie eines Nachts ihre Wohnung, weil sie sicher gehen will, dass ihr Telefonanschluss noch funktioniert, obwohl seit Ewigkeiten niemand mehr angerufen hat. Sie geht in eine Telefonzelle und wählt ihre eigene Nummer. Zu ihrem Erstaunen nimmt jemand ab und spricht mit ihr. Als sie wieder in ihre Wohnung zurückkehrt, ist dort jedoch niemand mehr. Der Blog endet mit dem letzten Eintrag am 2.3.2015; schon zuvor war von mysteriösen "Visitors" zu lesen, denen die Protagonistin Rede und Antwort stehen muss. Offenbar wurde sie schließlich von Ihnen mitgenommen, wohin auch immer. Der Leser assoziiert Ufos und Entführung durch Außerirdische - Wahnvorstellungen allgemein. Eine tragische, verstörende Geschichte, die die Texte seiner Songs illustriert und zum Teil in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. So könnte sich das infantil anmutende "Toodoodoo..." in Happy Returns letztlich als die schnelle Erschöpfung der Protagonistin bei ihrem Versuch erklären, ihrem Bruder einen Brief zum Geburtstag zu schreiben. Sie stellt fest, dass sie eigentlich nichts über ihn weiß, außer, dass er Frau und zwei Kinder hat und ihm letztlich auch nicht viel zu sagen hat. Sie bringt den Brief nicht zuende, "I'm feeling kind of drowsy now, so I'll finish this tomorrow" sind ihre letzten Worte und auch die letzte Textzeile des Albums. In Joyce Vincents Wohnung fanden sich bereits verpackte Weihnachtsgeschenke, weshalb man davon ausgeht, dass sie kurz vor Weihnachten 2003 gestorben sein muss. Die genaue Todesursache konnte nicht mehr festgestellt werden.

Exklusiv in der Deluxe-Edition gibt es eine zweite CD mit den Demos zu einigen Albumstücken. Wie nicht anders zu erwarten, sind diese von Wilson offenbar weitgehend im Alleingang eingespielten Demos in perfekter Tonqualität aufgenommen und erlauben einen unverstellten Blick auf die Entwicklungsphase seiner Musik. Es wird erkennbar, dass er die Arrangements speziell für seine Musiker konzipiert hat, die die Stücke dann später ohne allzu große Veränderungen interpretiert haben; die vorgesehenen Freiräume sind hier gut erkennbar, aber auch, dass einige wichtige Ideen erst später hinzu gekommen sind. So fehlt die erwähnte Hookline in 3 Years Older und Hand. Cannot. Erase. ist länger und hat einen völlig anderen Text. Erwähnenswert sind auch die beiden Stücke, die es nicht aufs Album geschafft haben: Key of Skeleton ist ein filmmusikartiges Instrumental mit schweren Streichern und Mellotron-Klängen, das am Ende richtig finster wird. Last Regret ist nichts anderes als die Fortsetzung von Happy Returns, mit einigen weiteren Zeilen an den Bruder, die eine Art Fazit des Lebens der Protagonistin als alternatives Ende beinhalten.

Die Blu-ray hat neben dem großartigen 5.1-Surroundmix, der viele Details offenbart, die dem Stereohörer verborgen bleiben, einige zusätzliche Tracks, die auch nicht uninteressant sind. Neben den Radio Edits von Hand. Cannot. Erase. und Happy Returns ist die "Ninet solo vocal version" von Routine erwähnenswert, ebenso der Alternativtake von Regret #9 mit einem völlig anderen Synthiesolo. Fast klassisch mutet die Zusammenfassung der Piano Themes from 'Hand Cannot Erase' an, ein 2:20 kurzer, virtuos gespielter Schnelldurchlauf, der wie eine eigens angefertigte Komposition klingt. Perfect Life kommt als "Grand Union Mix" mit dem gesprochenen Text fast komplett ohne unterliegende Musik und läuft danach noch gute fünf Minuten als ausladende Trip-Hop-Hymne weiter. Zusätzlich gibt es das gesamte Album auch noch als Instrumentalversion - da bleiben keine Wünsche offen.



Fazit: Nach allem, was ich bisher von Steven Wilson gehört habe, ist das hier der Höhepunkt seines Schaffens - eine Steigerung scheint kaum noch möglich, aber derzeit mag ich ohnehin nicht daran denken, wie es beim nächsten Album mit ihm weiter gehen könnte. Verglichen mit seinem Vorgänger ist dieses Album kompositorisch deutlich stärker - die Musiker konnten sich offenbar an gut ausgearbeitete Strukturen halten. Kein Wunder, dass die Improvisationen hier deutlich zurückgefahren scheinen, was das Album bei aller Schwere und Tiefgang, die es zweifellos hat, dennoch insgesamt deutlich leichter konsumierbar macht. Textlich kann man Wilson diesmal kaum etwas vorwerfen, insbesondere die Hintergrundgeschichte erscheint mysteriös und faszinierend zugleich, entsprechend gibt es viele starke Momente in seinen Lyrics, die sich einprägen.
Wenn es einen kleinen Wermutstropfen gibt, dann den, dass Wilson nach wie vor seine Unsitte pflegt, Melodien gern mal mit absurd-infantilen Ad-Libs aufzufüllen, was wirklich nicht sein müsste. Ich habe jedenfalls jetzt einen Ohrwurm: "Turaluraluralu - ich mach bubu was machst du..."